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Was im Wald geschah

Mittwoch, 3. November 2021

Der Wald war wild. Und wir ebenfalls.


3. Januar: gut drei Wochen nach dem Betriebsausflug

„Schnee“, denke ich. Eigentlich ist das noch kein Gedanke, sondern nur ein Wort, eine Feststellung, eine meteorologische Aussage. Und doch kommt es mir so vor, als sei „Schnee“ an diesem Tag durchaus ein Gedanke, die geistige Geburt von frostigen und zugleich mythischen Begebenheiten. Ich trage Langlaufski, unter den Kufen knirscht harschiger Schnee, der nur zuweilen von Tieren berührt wurde, wie entsprechende Spuren zeigen. Obwohl der Pfad, dem ich zu folgen versuche, seit dem letzten Schneefall nicht mehr von Menschen betreten worden ist, kann ich ihn noch erahnen, ich weiß selbst nicht recht, woran: sind die gelegentlich hinausragenden trockenen Gräser an den Seiten höher? Legt die Windung meines Weges durch Bäume, das Vermeiden von altem Stamm- und Wurzelwerk die Ausrichtung meines Pfades nahe? Jedenfalls zweifle ich nicht, wohin ich mich weiter vorwärts kämpfen muss, denn das ist es, was ich mache. Ich bin verschwitzt und müde, muss immer wieder aufsteigen, die kurzen Abfahrten sind gefährlich und unbequem, denn eine glatte Fläche gibt es ja nicht, geschweige denn Bahnen für meine Skier. Um mich herum stehen märchenhafte Tannen: groß und schneebeladen, mit Zapfen ganz oben in der Spitze, die sie in den dunkelblauen Himmel recken.

Es dämmert bereits, und ich bin allein im Thüringer Wald.

Rückblende: 10. Dezember. Betriebsausflug. Ankunft im Märchenwald: 13 Uhr und irgendetwas.

Jetzt war es soweit. Der Betriebsausflug hatte begonnen, und zwar so richtig: mit einer Schneewanderung. Die Ausrüstung gab es bei unserem Gastgeber.

Die Gegend war wunderschön, herrlich und wild. Unser Gasthof war ein altes Schiefergebäude, das durchaus romantisch anmutete, auch wenn es früher ein Quartier der Gestapo und danach ein Erholungsheim für die Stasi gewesen war. Das Wetter war ideal, der Schnee fest, der Himmel blau.

Wir waren sieben: Lothar, Andreas, Peter, und dann Kerstin, Maja, Silke und ich. Wir waren das Team von der Suchtstation 2 der Klinik in W., und wir waren hier, um uns zu besinnen, wie gut wir als Team funktionierten.

Nun ja. Immerhin fuhren wir jetzt hier Ski, mehr oder weniger erfolgreich, zusammen mit anderen Touristen: Familien, Pärchen, sportlichen Einzelkämpfern. Nicht so weit und nicht so anstrengend, sondern erst mal nur ganz gemütlich ein paar Kilometer, bis zu einer Hütte, wo es Glühwein oder Bier, Thüringer Wurst oder regionaltypische Klöße, und natürlich Kaffee und Kuchen gab. „Das sieht doch ganz nett aus“, meinte Lothar, unser Pflegeleiter, glücklich. Lothar ist sehr groß und sehr bärtig, er passt gut hier in diese Landschaft. Aber das sieht nur so aus, eigentlich fühlt er sich im Flachland und am Meer wohler als im Wald, und er ist auch nicht sonderlich ausdauernd. Jetzt, vor der anheimelnden Skihütte mit dem einladenden Lichterschmuck, wirkte er sehr erleichtert, sich von den Skiern befreien und in eine warme Stube eintreten zu können.

Beim Kaffee saß ich neben Lothar. „Und, gefällt es dir?“, fragte er mich, als ich gerade ein Stück Pflaumenkuchen in den Mund schob. „Meinst du das Skifahren oder die ganze Aktion hier mit unserem Team?“, fragte ich zurück. Lothar zuckte die Schultern. „Was du möchtest.“ Ich überlegte kurz und sagte dann: „Das Skilaufen gefällt mir richtig gut.“ Wir aßen weiter unseren Kuchen. Maja, die Psychologin in unserem Team, hatte sich gerade ein zweites Bier geholt und dabei mit ein paar anderen Gästen geplaudert. Als sie sich wieder zu uns gesellte, teilte sie uns begeistert mit (ihr ganzes Gesicht leuchtete dabei): „Wisst ihr, dass es hier Wölfe gibt? Ist Tatsache!“, bekräftigte sie, als sie unsere skeptischen Mienen sah. „Sie wurden von Naturschutzverbänden Anfang des Jahrtausends wieder angesiedelt und haben sich offensichtlich vermehrt. Es gab auch schon Begegnungen mit Menschen, Touristen und Einheimischen.“ Ich fand diese Spezifizierung interessant und fragte: „Und, wen bevorzugen die Wölfe?“ Lothar und Andreas, der betriebswirtschaftliche Klinikleiter, lachten, aber Maja verzog das Gesicht. „Musst du ja nicht glauben. Ist trotzdem ein Fakt“, beharrte sie beleidigt. Das sagte sie immer: „Ist ein Fakt.“ Damit beendete sie jede Diskussion und jedes konstruktive Gespräch. Je häufiger sie das sagte, desto weniger glaubten wir anderen ihr, aber das verstand sie nie. Jetzt mischte sich ein alter Herr ein, der auch an dem großen Tisch saß, um den wir alle uns scharten. „Die Wölfe sind hier, mehrere Rudel. Man hört sie nachts, besonders im Winter. Es sind mindestens 17 Tiere.“ Wir sahen ihn erstaunt an. 17 Tiere? Wie konnte es denn sein, dass wir noch nie davon gehört hatten? Aber der Mann sah sehr sicher aus. „Ich habe sie schon gesehen, die eine Familie. Zwei alte, vier jüngere, und mindestens drei sehr junge. Wenn man lange Zeit im Hochsitz wartet, dort am Oberen Berg, dann kann man Glück haben und sie sehen.“
Maja sah ihre Chance. „Tatsächlich?“, fragte sie eifrig und warf uns einen triumphierenden Blick zu. „Also können Sie aus eigener Erfahrung bestätigen, dass hier Wölfe leben?“

Der alte Mann sah sie an, oder doch auch nicht. Er war in seine Gedanken versunken, hatte Bilder vor Augen, die nur er sehen konnte. Bilder, die sein Gehirn ihm zu malen vermochte, er benötigte dazu keine Sehnerven. Und doch zuckte in seinen Augen etwas wie Furcht auf. „Sie sind groß, und sie sind wild“, flüsterte er. „Man darf ihnen nicht in die Quere kommen.“ Es war etwas unheimlich, wie er das sagte. Ich spürte, wie mich, trotz des Lärms und der Geselligkeit hier in der Gaststube, ein Schauder überfiel. Andreas und Lothar fühlten sich auch unbehaglich, das sah ich ihnen an. Nur Maja schien ungerührt. „Seht ihr?“, wandte sie sich uns zu. „Hier leben Wölfe. Ich wünschte, ich würde sie auch sehen. Das wäre mal ein echtes Erlebnis! Nicht nur dieses Herumschleichen auf Skiern, was ja doch keiner von uns richtig kann.“ Ich wusste, dass sie vor allem Andreas damit einen Stich versetzen wollte. Andreas hatte nämlich vor diesem Ausflug mit seinen Skikünsten geprahlt und immer wieder betont, er freue sich auf eine richtige sportliche Herausforderung. Hier, im Wald, stellte sich aber schnell heraus, dass unser Klinikleiter möglicherweise ein guter Marathonläufer war (er lief täglich mehrere Kilometer und nahm erfolgreich an diversen Wettläufen teil). Als Skifahrer allerdings fiel er, wenn überhaupt, durch eine hastige Ungeschicklichkeit auf. Er fuhrwerkte mit seinen Skistöcken herum und schlug mehrere Male hart damit gegen Bäume. Es war ein Wunder, dass die Stöcke noch intakt waren. Wir hielten uns sicherheitshalber fern von Andreas. Dazu kam, dass er ständig seine Geschicklichkeit überschätzte: ging es bergauf, begann er wie ein Profi die Skier zu kreuzen, um schnell voranzukommen – doch dann rutschte er unweigerlich nach hinten und griff nach jedem rettenden Halt, um nicht zu stürzen. Einmal war Lothar in seiner Nähe, als Andreas wieder rückwärts zu gleiten begann. Lothar fühlte sich plötzlich am Arm gepackt, verlor das Gleichgewicht – auch er war Skianfänger -, versuchte noch mit einer weit ausladenden Bewegung des anderen Arms dem unvermeidlichen Sturz entgegenzuwirken. Aber dann fielen sie schon beide, schwer und hart. Andreas war also keineswegs der Skiathlet, als der er posiert hatte. Und Maja ließ ihn das zu jeder Gelegenheit spüren.

Es war ohnehin die Zeit der schwelenden Konflikte, der Wahrheiten, die jetzt, anlässlich der Gruppenfindung, unbedingt aus der Dämmerstube des Unbewussten an das helle Licht eines kalten Winters in einem ungezähmten Wald gezerrt werden mussten.

Auch ich hatte meine Psychologiestunde schon hinter mir. Gleich nach unserer Ankunft gegen Mittag, als die anderen - wie ich dachte - noch damit beschäftigt waren, auszupacken und sich einzurichten, hatte ich beschlossen, die unberührte, tiefverschneite Landschaft allein zu kosten und war hinausgetreten in die stille Schönheit der Natur. Es war eiskalt und so still, dass ich die Schneeflocken hörte, wenn sie auf den Ästen der Tannen landeten. So viel Schnee hatte ich seit Jahren nicht mehr gesehen. Ich war sprachlos. Ich atmete so leise und leicht wie nur möglich, um diese vollkommene Stille und Unberührtheit nicht zu beeinträchtigen. Meine Stiefel knirschten ganz leise, als ich mich von unserem Haus entfernte. Dann, ganz plötzlich, durchschnitt ein Ruf die wilde Einsamkeit, die mich umgab: „Hallo, Jana!“ Und schon war es vorbei, dieses Gefühl, der einzige Mensch in einer ganz neuen Welt zu sein. Zerronnen und vergangen, unwiderruflich. Ich wandte mich um, erblickte Kerstin, die Sozialarbeiterin, die ihren dicken Zopf wie in einem alten bayerischen Heimatfilm um ihren Kopf gewickelt hatte. Sie schaute aus einem Fenster im ersten Stock, bekleidet mit einem blauen Bademantel - warum? Wir waren doch gerade erst hier angekommen?! - , und winkte mir jetzt auch noch großmütig zu. „Du, ich komme auch gleich runter. Warte nur auf mich, dann gehen wir zusammen etwas spazieren. Mich packt es auch, wenn ich das so sehe!“ Und sie verdrehte verzückt ihre Augen.

Ich hatte Kerstin noch nie gemocht. Sie war immer so patent, so ganz „bei der Sache“, so unglaublich hilfreich in ihrem Kampf für die Alkis und Drogis. Und zugleich so unerträglich bestimmend, so verdammt kompetent und besorgt um „ihre Schützlinge“. In meinen Augen ein klarer Fall für die Psychologie: zufrieden, solange sie sich um Schwächere kümmern konnte, und zutiefst gekränkt, wenn die anderen nicht machten, was sie verlangte. Kerstin war wirklich die letzte Person, mit der ich diesen Moment in der weißen Welt der Stille teilen wollte. Und das sagte ich ihr dann auch endlich. Ohne Höflichkeit und ohne die vielgerühmte Blume. „Mensch, lass mich doch endlich mal in Ruhe. Ich will hier was genießen, allein und ohne dein lästiges Gerede. Spinnst du eigentlich, mich hier einfach so anzuquatschen, du blöde Kuh?“ Ich glaube, das mit der blöden Kuh und dem Spinnen habe ich nur noch gedacht und nicht mehr ausgesprochen. Aber es reichte trotzdem schon. Kerstin sah so herrlich fassungslos aus, mit ihrem hellgefärbten Haar und dem altmodischen Frotteemantel, wie sie da am Fenster stand und nicht wusste, wie ihr geschah. Dann knallte das Fenster, und das patente Gespenst war verschwunden. So, dachte ich, eine Verbündete weniger in der Klinik. Ich fühlte mich dennoch seltsam erleichtert, fast euphorisch. Es musste an der kalten, klaren Luft liegen.

Also, Konflikte, Unhöflichkeiten – oder besser: der Verzicht auf alles Gezierte, Gekünstelte und Anständige: das war es, was diese Natur und die Stimmung von Schnee, Kälte und Abgeschiedenheit bei uns bewirkte. Eine Metamorphose. Eine todesmutige Verwandlung, im wahrsten Sinne des Wortes.

Erster Abend und erster Streit

Es war schon spät, als wir von unserem ersten Ausflug auf die nahegelegenen Loipen zurückgekamen. Wir hatten allerdings auch lange in der Skihütte bei Kaffee und Pflaumenkuchen gesessen. Es war warm und gemütlich, und niemand wollte so recht wieder hinaus in die Kälte, mit den sperrigen Brettern unter den Füßen. Doch dann begann es zu dämmern, und die Kaminstube in der Hütte leerte sich zunehmend. Die Wirtin sah immer häufiger auffordernd zu uns hinüber, und sie legte keine neuen Holzscheite im Kamin nach. Die Flammen wurden kleiner, bis nur noch die Glut in der Asche des verbrannten Holzes glomm.

Andreas machte den Anfang. „Kommt, Leute, wir müssen los.“ Er stand auf und wandte sich zum Bezahlen um, die Wirtin war sofort zu Stelle, als habe sie auf ein Signal gewartet. Wahrscheinlich hatte sie das auch. Ich war müde und lustlos, aber die klare, kalte Luft und der Anblick der ersten Sterne hoch über den dunklen Wipfeln der Tannen belebten mich wieder. Die Loipen waren alle hell erleuchtet, der Schnee glitzerte. Es waren noch mehr Menschen unterwegs, als ich gedacht hatte. Es roch nach Harz, nach Schnee und nach Kamin, eine wunderbare Mischung. Mir kam es vor wie Weihnachten. Merkwürdig beglückt zog ich mir die warme Jacke an, setzte die grüne Mütze auf, und befestigte dann meine Skier an den Schuhen. Jetzt noch die Handschuhe überstreifen und dann die Skistöcke umfassen – ich war bereit! Meine Müdigkeit war verflogen, zum ersten Mal spürte ich, dass ich dieses Erlebnis wirklich genoss. Die anderen hatten sich auch fertig gemacht, und wir machten uns auf den Weg zurück zum Gasthof. Meine Skier glitten über die ausgelaufenen Spuren, wir bewegten uns seltsam leicht durch die schattenreiche Landschaft. Es war herrlich.

Ich weiß nicht mehr, wie es kam, dass ich hinter den anderen zurück blieb. Vielleicht war ich ein paar Mal stehen geblieben, um in den sternenklaren Himmel zu schauen, oder ich war einfach langsamer. Jedenfalls bemerkte ich plötzlich, dass die Skifahrer um mich nur Fremde waren. Bis ich eine kleine Gruppe von Menschen erspähte, die beieinander standen und mit den Skistöcken in den Wald deuteten. Das waren sie, ich erkannte die etwas ungelenke Gestalt von Andreas, seine blaue Mütze, und die rote Jacke von Kerstin. Ich stieß mich vorwärts und kam, wie ich fand, schwungvoll zum Stehen. "Was ist los?", fragte ich. Lothar wandte sich mir zu. "Maja hat einen Wolf gesehen", erklärte er, ohne die Miene zu verziehen. Andreas schüttelte den Kopf und ergänzte korrigierend: "Maja glaubt, einen Wolf gesehen zu haben." Woraufhin Silke und Kerstin lachten, Maja dagegen wütend auffuhr. Ich weiß nicht mehr, was genau sie sagte, aber ihr Ärger war so spürbar, dass ich kurz das Gefühl von einem Funkenregen hatte, der uns entgegenschlug. Sie stieß ihren rechten Skistock mehrmals heftig in den Schnee, während sie etwas wie "weiß, wovon ich rede" zischte.

Andreas schüttelte weiter den Kopf, und ich dachte, es wäre besser, wenn er damit aufhören könnte. Warum Maja immer weiter reizen, auch wenn ich ebenfalls bezweifelte, dass sich hier, in unmittelbarer Nähe der doch ziemlich befahrenen, beleuchteten Skipiste, ein Wolf herumtreiben würde?

"Kommt, es wird spät. Lasst uns sehen, dass wir zurück kommen." Mit diesen Worten schwang Andreas sich wieder auf die Spur, ohne die aufgeregte Maja noch einmal eines Blickes zu würdigen.

Nicht gut, so ein Verhalten. Kerstin, die Pragmatische, folgte dem Klinikchef ungerührt. Peter und Silke machten sich ebenfalls auf den Weg. Lothar und ich standen etwas verlegen und ratlos bei Maja. "Wir können den Wirt ja mal fragen, ob er auch meint, hier könnten Wölfe auftauchen", schlug Lothar vor, um die Wogen zu glätten. Maja ging nicht darauf ein. Ihre Wut, das sah ich ihr an, hatte sich in kalte Verachtung gewandelt. "Ihr braucht mir nicht gut zuzureden, herzlichen Dank", sagte sie. "Ich weiß genau, was da war. Wer mir nicht glaubt, soll es lassen. Aber dann bitte nicht wundern, wenn plötzlich so ein Tier vor euch steht." Womit sie sich umwandte und davonfuhr.

Kein vielversprechendes Ende des ersten Tages. Es lag etwas Zündendes in der Luft, etwas, das uns als Team nicht inspirierte, sondern eher bewusst machte, was wir waren: lauter Menschen mit ganz eigenen Leidenschaften und Erwartungen, die eigentlich nur einte, dass sie in derselben Klinik arbeiteten. Sonst gar nichts. Und das wurde hier, an diesem Ort der Wildheit, nicht nur deutlich. Es wurde zu einem Problem.

2. Tag, 11. Dezember: Frühstück

Der Frühstücksraum war interessant. Entweder war hier ein besonders kreativer Mensch mit Sinn für Humor am Werk gewesen, oder die Inhaber hatten wenig Geld und auch keinen ausgeprägten Blick für Stil und Geschmack. Auf den langen, einfachen Holztischen lagen keine Decken oder anderer Schmuck, sondern nur Teller und Tassen: und zwar aus mindestens fünf oder sechs verschiedenen Geschirren bunt zusammengewürfelt. Da fand sich eine rot geblümte, große Kaffeetasse mit Henkel neben einem hübschen Dessertteller mit feinen, gelben Streifen. Weiße, schlichte Tassen gesellten sich zu Porzellan und Steingut in allen Farben und Größen. Sogar ein oranger Plastikteller stand da, und ausgerechnet auf dem Platz, an dem Andreas saß. Servietten lagen einfach in Stapeln herum, man konnte sich eine – oder auch mehrere – davon nehmen (einfarbige in Grün und Blau waren im Angebot, aber auch österliche Hasen schielten freundlich zu uns herauf). Etwas zu essen oder zu trinken entdeckte ich nicht, dafür bemerkte ich aber, dass es kalt war in dieser heimeligen Stube.

Die anderen schienen auch verwirrt zu sein. Unsicher suchten wir uns einen Stuhl und sahen uns nach Kaffee um. An der Wand standen weiß gedeckte Tische aneinandergereiht, vor denen keine Stühle standen – sollte hier etwa erst noch das Buffet aufgebaut werden? Ich ließ mich zögernd neben Maja nieder, die müde und genervt aussah. „Warst du schon draußen?“, fragte ich sie. „Es ist herrlich, heute Nacht ist noch mehr Schnee gefallen.“ Maja sah sich unruhig um, erblickte eine Frau mit Schürze und rief sofort: „Hallo, entschuldigen Sie, wo bekommt man denn hier einen Kaffee?“ Die beschürzte Frau lächelte freundlich und erklärte: „Kommt sofort, ich bringe gleich die Kannen. Es tut mir leid, wir sind heute Morgen etwas in Verzug, weil gestern Abend noch unerwartet eine andere Gruppe zu uns gestoßen ist. Gleich bin ich wieder da!“

Maja seufzte, bedankte sich und wandte sich mir zu. „Mit Gästen ist in einem Gasthaus ja auch nicht zu rechnen, oder? Na ja, wenn es eine Gruppe ist, und dann noch unangekündigt, das klingt zugegebenermaßen nach Stress. Hoffentlich ist der Kaffee heiß – und stark. Es gibt nichts Schlimmeres, als mit lauwarmem Kaffeewasser in einen kalten Tag zu starten.“ Sie seufzte wieder. Dann fiel ihr offenbar ein, dass ich sie etwas gefragt hatte. „Entschuldige, Jana. Nein, ich war noch nicht draußen. Und ich habe auch nicht so richtig Lust, überhaupt raus in die Kälte zu gehen, muss ich ehrlich sagen.“ Damit versank sie in dumpfem Schweigen.

Der Kaffee, als er schließlich auf großen Trolleys hereingerollt kam, war schwarz, stark und gut. Angesichts der reichlich beladenen Tabletts, die jetzt ebenfalls verteilt wurden, hob sich die Stimmung spürbar. Brotkörbe wurden vor uns gestellt, Platten mit Aufschnitt, ganze Schalen voll mit Marmelade, unter Tüchern warm gehaltene Eier. Schön angerichtet war es zwar nicht, aber wir stürzten uns wie Teenager auf Klassenausflug auf alles Essbare. Das heruntergekommene Ambiente des Saals, an eine Jugendherberge erinnernd, trug dazu bei, dass wir in gewisser Weise immer jünger wurden. Endlich fingen Andreas und Lothar an, miteinander zu sprechen und sogar zu lachen; auch Peter mischte sich ein. Als der Bedienung ein Stapel Löffel klirrend auf den Boden fiel, kicherte sogar jemand. Ich war heißhungrig, verschlang ein Eierbrötchen nach dem anderen und blickte auf, um mir mehr Kaffee einzuschenken. Mein Blick fiel auf Kerstin, und ich war einen kurzen Moment lang irritiert, wie alt sie aussah, bis mir wieder einfiel, dass wir nicht mehr im Schulalter waren. Kerstin war schon Ende fünfzig, und so sah sie auch aus an diesem Morgen. Ich fand sie unangenehm, mit ihrem verkniffenen Mund (ich wusste, dass das immer ein Zeichen von Konzentration bei ihr war, nicht von schlechter Laune oder gar Ärger, aber: worauf musste sie sich denn jetzt, mit einem Wurstbrot in der einen und einer riesigen und geradezu künstlich grünen Gurke in der anderen Hand, so verbissen konzentrieren?!) Ich spürte, wie ich mit schaudernder Faszination ihre Gesichtszüge betrachtete und so viel Abneigung in mir spürte. Warum nur? Was hatte es mit diesen unangebrachten Gefühlen hier auf sich?

Ich wandte mich meinem Brötchen zu. Allerdings begann jetzt Maja wieder zu sprechen, und zwar erneut von den Wölfen. Sie wollte in einem Gästebuch, das in ihrem Zimmer lag (warum dort?), von unheimlichen akustischen Begegnungen zwischen Mensch und Wolf gelesen haben. Sie zitierte sogar, was jemand notiert hatte: „Wenn ein Wolf einen Laut von sich gibt, ganz gleich, ob es ein Knurren, ein kurzes scharfes Bellen (was selten bei Wölfen vorkommt), oder eben ein Heulen ist, dann weiß der Mensch sofort: das kommt von einem Wolf. Dazu braucht es kein Wissen, keine Einführung in die Wolfskunde. Die geradezu mystische Verbindung zwischen uns und den Wölfen ist so stark, dass irgendetwas tief in uns Verborgenes zu uns spricht und wir mit absoluter Gewissheit sagen können: Das war ein Wolf.“ Die Männer hatten ihr Gespräch unterbrochen, jetzt wandte sich Andreas Maja zu: „Sag mal, turnt dich das an mit den Wölfen, oder was?“ Peter und Lothar lachten, und auch ich musste innerlich etwas grinsen, denn es stimmte: Majas Augen hatten schon wieder diesen gewissen Glanz, genau wie am gestrigen Abend, als der alte Mann von den Wölfen erzählt hatte.

Maja lachte nicht. Überhaupt: Mir fiel auf einmal auf, dass heute Morgen die Welt ganz deutlich in zwei Geschlechter geteilt war: die Männer waren gut gelaunt, gesprächig, laut und vereint in einer Art Bruderschaft. Wir drei Frauen dagegen saßen seltsam isoliert an unseren Plätzen, waren ernst und auf uns selbst fokussiert: ich auf meine Abneigung gegen Kerstin; diese wiederum auf die schwere Kunst des richtigen Frühstückens; und Maja auf die Wildheit der Wölfe, die der starke Kaffee ihr wieder ins Bewusstsein gerückt hatte. Eine von uns fehlte noch, das war Silke, die langmähnige Sekretärin von Andreas. Wahrscheinlich schlief sie noch, Silke war die Jüngste von uns allen, erst Mitte zwanzig, und sie schlief gern lang.

Silke hatte ihren großen Auftritt, als wir schon fast fertig waren mit unseren Brötchen. Zusammen mit der dritten Ladung Kaffee kam sie hinter der Kellnerin hereingetänzelt. Ihr Haar hatte sie ganz hoch aufgetürmt (Maja raunte mir zu: „Da kommt die Krönung der Schöpfung höchstpersönlich“), sie war wie immer tadellos geschminkt. Ihr Haar war blond, wie sich das für eine klassische Sekretärin gehört. Sie trug an diesem Morgen knallenge rote Hosen, einen lustigen Winterpulli mit dem aufgestickten Bild eines schelmischen Elchs, und rote Stiefel mit hohen Absätzen. „Hallihallo, die Sonne geht auf!“ rief Peter begeistert. Lothar blickte etwas irritiert auf die leuchtende Erscheinung, und Kerstin fragte in ihrer unverblümten Art: „Willst du mit den Schuhen etwa raus in den Schnee?“

Die Männer lachten, Maja verzog das Gesicht, und Silke, die zwar aussieht wie ein Paradiesvogel, die aber zugleich auch irgendwie ganz schlagfertig ist, meinte: „Ach weißt du, Kerstin, ich werde schon jemanden finden, der mir weiterhilft, wenn es zu unbequem wird, meinst du nicht?“ Und sie setzte sich ungerührt neben mich und schenkte sich Kaffee ein.

Nach dem Frühstück: Enttäuschung am alten Turm

Der Ausflug zum alten Turm, zu dem man sich nach dem Frühstück entschlossen hatte, lief nicht so gut. Das fand jedenfalls Maja.

Sie waren mehr oder weniger außer Atem dort oben angekommen. Das Wetter war zugegebenermaßen herrlich: die kalte, reine und würzige Luft, wunderbarer Schnee (über Nacht waren mindestens dreißig Zentimeter Neuschnee gefallen), und dann diese hohen Tannen, deren schwer beladene Zweige wie weiße, mahnende Arme in alle Richtungen wiesen. Doch da oben war es weniger idyllisch als gedacht: kein Ausschank, nichts zum Hinsetzen (außer den steinernen Bänken vor dem alten Gemäuer, auf denen natürlich hoch Schnee lag), nicht einmal eine Toilette: einfach gar nichts. Und keine Spur von Ausblick. Stattdessen aber mehr Menschen, als Maja bisher irgendwo hier gesehen hatte. Wo kamen die nur alle her? Sogar Familien mit kleinen Kindern waren da – wie hatten die Kleinen den steilen Aufstieg auf ihren Skiern geschafft? Eine besonders laute Gruppe sprach Russisch. Offenbar waren das mehrere befreundete Paare mit ihren Kindern, oder zahlreiche Geschwister mit Nachwuchs plus Freunden, die alle ungehemmt lachten und sich fantastisch zu amüsieren schienen.

Maja seufzte. Sie stand da, zwischen Andreas und Lothar, die beide auch nicht gerade begeistert wirkten. Andreas wühlte schon wieder in seinem riesigen Rucksack herum. Was suchte er da nur so umständlich? Maja versuchte, ihre Abneigung gegen den Chef zu unterdrücken. Sie wusste, dass ihre Gefühle irrational waren, war sich aber natürlich als Psychologin auch der Tatsache bewusst, dass in ihr, wie in allen Menschen, unter- oder vorbewusste Instinkte verborgen lagen: In den unvorstellbaren Tiefen eines uralten Teils ihres Gehirns, für Vernunft und Logik vollkommen unzugänglich, lauerten Motivatoren, die das Denken und sogar das Handeln auf eine Art und Weise beeinflussen konnten, die wir selbst nicht verstanden. Manchmal hatte Maja Angst vor diesen unbeherrschten und unbeherrschbaren Dämonen aus der Geburtsstunde der Menschheit. Und genau diese Dämonen flüsterten ihr zu: „Dieser Mann ist unerträglich. Nein, er ist mehr als das: er ist hassenswert. Du verabscheust ihn…“ Maja unterbrach die Dämonen: „Hört auf. Hört sofort auf. Der Mann hat einen Namen. Er heißt Andreas. Er ist etwas älter als ich, und er hat mir niemals etwas getan. Er ist ein guter Geschäftsführer und setzt sich in der Klinik überdurchschnittlich ein. Er…“ „Ha!“, höhnten die Stimmen der urzeitlichen Dämonen. „Setzt sich überdurchschnittlich ein? Das klingt wie ein Satz für ein Arbeitszeugnis. Eigentlich meinst du doch: Er mag es, wenn er anderen sagen kann, wo es lang geht. Er ist ein Kontrollfreak. Das ist doch genau der Grund, warum du ihn nicht ausstehen kannst. Gib es doch zu, du kannst es nicht ertragen, wie er spricht, wie stolz er auf seine „Sachlichkeit“ ist, wie penibel er alle Vorschriften auslegt und sogar ausweitet. Er ist unerträglich, ein Korinthenkacker, der allen das Leben schwermacht. Und der jetzt, außerhalb der Klinik, den jovialen „Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps“-Typ herauskehrt. Du kannst ihn doch nicht ausstehen, diesen kranken Psychopathen!“

„Hört auf!“, schrie Maja.

„Womit denn?“

Maja brauchte einige Sekunden, bevor sie verstand, dass diese Frage nicht mehr von ihren Dämonen kam. Andreas hatte sie gestellt. Der Klinikdirektor drehte sich mühsam auf seinen Skiern zu ihr und warf ihr einen besorgten Blick zu.

„Womit sollen wir aufhören? Was ist denn, Maja?“

Maja sah ihn an. Andreas schwitzte, er hatte die Handschuhe ausgezogen und wischte sich über die Stirn. Seine Mütze war ihm hochgerutscht und hatte sich oben zu einer Spitze zusammengezogen. Lächerlich sah er aus, wie ein großer Zwerg. Dazu sein sorgenvoller Blick aus den etwas zu großen, fast kindlich anmutenden Augen … Maja verspürte einen unangemessenen Reiz zu lachen.

„Nichts, ich habe nur an etwas gedacht. Alles in Ordnung mit dir, Andreas?“

Andreas nickte.

„Ich bin nur fertig von diesem sinnlosen Aufstieg. Die Skier, ich muss es jetzt endlich mal zugeben, Maja, die sind nicht so mein Ding. Ich kontrolliere lieber, wohin meine Füße mich tragen. Das geht mit diesen Brettern nicht.“

Maja wurde von einer Woge der Reue überrollt. Andreas war ein Mensch wie jeder andere, und er war hier nicht in seinem Element. Sie würde ihm jetzt mit Verständnis und Nachsicht begegnen.

Plötzlich bemerkte sie, dass ein Ruck durch die Menge um sie herum ging. Männer richteten sich auf, zogen ihre Jacken gerade (damit sie schlanker wirkten), Frauen richteten sich aufmerksam auf. Was war los? Dann erblickte sie Silke. Peter als gehorsamer Knappe an ihrer Seite, schritt sie, eine weiße Pelzmütze auf dem Kopf, auf ihren hohen roten Stiefeln ungerührt durch die Reihen. „Wie eine Prinzessin auf Besuch bei ihren Truppen“, schoss es Maja durch den Kopf. Auch Andreas hatte seine Sekretärin bemerkt. Er verlor beinahe das Gleichgewicht, fing sich aber gerade noch und rückte tatsächlich seine lächerliche Mütze zurecht!

Maja wandte sich ab und merkte wieder, wie die große Müdigkeit über sie kam. Sie beschloss, so schnell wie möglich abzusteigen. Sie wollte zurück in ihr Zimmer, sich auf ihr Bett legen, etwas ausruhen, vielleicht irgendwie Schwung für den Rest des Tages bekommen. Möglicherweise gab es ja auch eine Minibar irgendwo in dem Gasthof.

Rückkehr vom alten Turm: Maja, Teil I

Als Maja die schmale Piste betrat, überkam sie auf einmal eine merkwürdige Vorahnung. Sie hatte das Gefühl, es werde noch etwas geschehen heute, etwas, auf das niemand gefasst war. „Die Wölfe“, dachte Maja. Sie wusste, dass es hier ein Rudel gab, und der alte Mann gestern hatte es bestätigt. Während sie zwischen hohen Bäumen zu Tale glitt, sah Maja die Schatten der grauen Tiere vor sich. Einmal meinte sie sogar, einen Abdruck im Schnee zu sehen – doch ganz sicher war sie nicht. Es hätte sie überhaupt nicht gewundert, wenn an einer einsamen Stelle, wo niemand außer ihr war, zwei oder drei Wölfe aus dem Dickicht hervorgestürmt wären. Fast spürte sie schon ihren Atem.

Sie erinnerte sich, einmal ein Buch über die Jagd gelesen zu haben, in dem die Jäger in voller Montur in den Wald gingen, endlos lange auf Hochsitzen ausharrten, der Dunkelheit und der Kälte trotzten, - und die dann, wenn endlich ein Reh, ein Hirsch oder ein Wildschwein die Lichtung betrat, auf die das Zielrohr ihrer Waffe gerichtet war, nicht schossen. Jedenfalls nicht mit scharfer Munition: sondern nur mit dem Auslöser ihrer Kamera. Jagen musste nicht mit dem Tod enden.

Maja, die gerade noch so müde gewesen war, spürte, wie neue Energie ihre Adern durchströmte. Sie würde jetzt jagen. Mit ihrer Kamera. Sie würde in den uralten Kreislauf von Jagen und Gejagtwerden eintreten. Sie würde warten, geduldig und unerbittlich. Und am Ende würde ein Foto dabei herauskommen: ihre Jagdbeute.

Maja, Teil II

Als Maja von ihrer einsamen Wacht an der Lichtung aufbrach, waren erst dreißig Minuten vergangen. Es hatte sich kein Wolf blicken lassen. Dafür war es sehr kalt und sehr hart auf dem Baumstamm. Ihre Finger, die die Kamera umfassten, waren starr und unbeweglich geworden.

Einmal hatte Maja kurz geglaubt, etwas zu hören. Ein Geräusch, als würde ein Dickicht durchbrochen. Ein Laut, der von einem Wolf kommen könnte: einem Wolf, der kurz aufheult, um andere Rudelmitglieder auf etwas aufmerksam zu machen.

Aber dann geschah nichts weiter. Es wurde nur immer kälter. Und schließlich erhob sich Maja, frierend, steif und enttäuscht.

Als sie die Schlucht erreichte, sah sie zunächst das einzelne Skibrett. Maja überlegte, wie es dahin kommen konnte: rot, mit blauen Streifen, hochkant im Schnee steckend, unmittelbar vor dem mit kleinen Tännchen und viel Buschwerk bewachsenen Rand des Hanges, der steil nach unten führte.

Sie fuhr weiter, an dem einsamen Ski vorbei. Im Schnee waren Spuren zu sehen, keine Wolfsspuren, sondern Abdrücke von Skiern, von Füßen, und von etwas Größerem. Es sah aus, als habe sich jemand dort gewälzt. „Die Russen haben hier gespielt“, dachte Maja, unlogischerweise, wie ihr selbst klar war. Als sie den Abhang erreichte, spürte sie, wie verkrampft sie ihre Skistöcke umklammert hielt und wie stark ihr Herz hämmerte. „Ich bin ein Angsthase“, dachte Maja wütend. Und nur Sekunden später sah sie etwa zehn Meter weiter unten den Körper. Der Körper lag verrenkt da, die Beine weit gespreizt, und der Kopf war so absurd weit nach links verdreht, dass ihr sofort klar war: die Person war tot.

Ihr erster Gedanke war: „Das ist Andreas. Er ist abgestürzt.“ Sie sah ihn vor sich, wie er noch vor ganz kurzer Zeit dort oben beim Turm gestanden und in seinem Rucksack gewühlt hatte. Wie er seine Mütze beim Anblick der schönen Silke zurechtgerückt hatte. Und jetzt war er tot.

Warum hatte sie ihn noch vorhin so sehr gehasst? Er war doch nur ein Mensch, der versuchte, in seinem Leben zurechtzukommen. Der immerhin auch die Klinik leitete, Verantwortung trug, sein Bestes gab dabei... "Ich verwechsle die Zeiten", dachte Maja, und es tat weh, richtig schmerzhaft war es, das zu denken. "Er war Klinikleiter - er hat verantwortet - er gab sein Bestes..." Sie fasste sich an die Stirn, hinter der sich ein stechender Schmerz ausbreitete.

Maja spürte, wie ihre Magenwände sich zusammenzogen. Ihre Beine wurden ganz weich, der Wind rauschte so laut, und plötzlich war ihr Gesicht dem Schnee am Boden ganz nah. Und dann erbrach sie sich, schnell und heftig. Irgendwo flirrte die Frage durch ihr Gehirn, ob man etwas machen könne, den Notarzt anrufen … „Natürlich nicht!“, schrie sie, im kalten Schnee kniend, und ihr war so gottverdammt übel wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Der Schnee färbte sich ekelhaft, und Maja dachte in unzusammenhängenden Fetzen, dass der Schnee auch da unten, wo Andreas lag, verfärbt sein würde, möglicherweise rot, so wie seine Jacke…

Dann klickte irgendetwas in ihrem Kopf. Maja wusste nicht sofort, warum, denn sie keuchte vor Anstrengung, ihren gesamten Mageninhalt hier auszuspeien, und der Wind hörte nicht auf zu rauschen, das war doch schon unnatürlich, so ein brausender Sturm, gerade war es doch noch fast windstill gewesen. Maja beugte sich wieder vor und brach ein weiteres Mal. Aber dann, noch während sie sich mit ihrer behandschuhten rechten Hand ungelenk über den Mund fuhr, wusste sie, dass etwas nicht stimmte. Sie zwang sich, nachzudenken, den Fehler zu finden, da war etwas, sie kam nur nicht darauf, was konnte es denn nur sein?

Auf einmal war es still. Der Wind war abrupt verstummt. Wie in Zeitlupe hörte Maja sich selbst mit einer ganz fremden, heiseren Stimme sagen: „Das ist gar nicht Andreas. Er hatte keine rote Jacke an. Es ist jemand ganz anderes.“

Wer immer dort unten lag: Andreas war es nicht.

Silke und Peter

Silke, Silke. Peter konnte nichts anderes mehr denken. Silberhelles Wort, verheißungsvoll läutend, wie die Weihnachtsglocke in den Kindergeschichten.

Peter war glücklich. Zum ersten Mal in seinem Leben war er so grenzenlos, so unbekümmert und gnadenlos glücklich, dass er sofort hätte sterben können, ohne zu bedauern, jemals geboren worden zu sein. Hier, an der Seite dieser unglaublichen Frau, verstand er endlich, was das war: das Leben. Es war eine lange, quälende Vorbereitung auf einen einzigen Moment, in dem alles Sinn machte: unwiderruflich, fraglos, ohne Zweifel, ohne Zögern und ohne Angst.

Silke, Silke.

Wie wunderbar ihre langen blonden Locken unter der Pelzmütze hervorquollen. Ihr Lächeln galt nur ihm, und er war vielleicht der einzige Mensch auf dieser vermaledeiten Erde, der erkannt, wie sich ihre Bewegungen zu einer vollkommenen Harmonie zusammenfügten: die Hand, die die Haare zu einem Strang drehte, der sich natürlich nicht wirklich bändigen ließ und sich sofort wieder auflöste. Die Drehung ihres Kopfes, die eine Antwort auf den Sonnenstrahl zu sein schien, der gerade durch die Spitze der größten Tanne stach, die Peter jemals gesehen hatte. Die federnden Schritte der roten Stiefel, die sich dem steilen Pfad anpassten und ihn zugleich beherrschten…. Es war die Melodie des Universums, die Peter vernahm, wenn er Silke ansah.

Es war immer alles so schwer gewesen in seinem Leben, aber Silke hatte die bleierne Decke gelüftet und die Gewichte, die sonst auf seinen Schultern lagen, die seine Gedanken und Gefühle versteinern ließen – diese schweren Gewichte schwebten jetzt als leichte, fluide Wolken dort oben an dem herrlichen thüringischen Himmel.

Peter sah Silke an, sie hatte so unglaublich dunkelblaue Augen, und jetzt beugte sie sich zu ihm, um ihn zu … Nein, natürlich noch nicht, so schnell durfte es auch gar nicht gehen, denn das Glück dieses Moments sollte nicht zerrinnen. Es war fragil, dieses Glück, und es wollte noch eine Weile versponnen in der Luft hängen.

Silke beugte sich zu Peter, um ihn zu fragen, ob er glaube, sie hätten sich verlaufen. Hätten sie nicht schon längst an der Futterkrippe sein müssen, die sie auf dem Hinweg passiert hatten? Hier war es doch gewesen, meinte sie, unter diesen drei dicht nebeneinanderstehenden jungen Tannen, die wie vorlaute Kinder vor dem eigentlichen Wald herumtanzten.

Silke lachte, als sie das so sagte, und sah Peter an, um festzustellen, ob er ihre Formulierung auch so originell fand wie sie selbst. Aber Peter sah etwas abwesend aus, so, als würde er an ganz anderes denken.

Eigentlich war er etwas merkwürdig, dieser Kollege, aus dem niemand so recht schlau wurde. Ein hübscher Kerl, mit seinen sehr hellen Haaren und der fast transparent wirkenden Haut, aber eben undurchschaubar.

Silke hatte Hunger. Sie hatte am Morgen nur wenig gefrühstückt, da sie zu spät nach unten gekommen war. Und sie war ein Mensch, der regelmäßig etwas essen musste, sonst wurde sie mürrisch. Sie fragte Peter, ob er vielleicht einen Müsliriegel oder sonstigen Proviant bei sich hatte.

Peter hatte nicht nur einen Müsliriegel in der Jackentasche, sondern belegte Brötchen und eine Thermoskanne mit Kaffee in seinem Rucksack. War er nicht ein wunderbarer Typ? „Du bist ein wunderbarer Typ!“, erklärte Silke, und sie sah, dass Peters sehr hellblaue Augen aufleuchteten. Tatsächlich, ein unterschätzter Mann, Silke überlegte, ob sie ihm das sagen könnte, oder ob er dann beleidigt sein würde. Sie trank den immer noch heißen Kaffee, biss in ein Käsebrötchen und sah sich um. Ganz hübsch hier, die ganze Szene mit dem Schnee, der sich so kontrastreich von den dunkelgrünen Tannen abhob. Über ihnen rief eine Taube.

„Wo Tauben sind, da lass dich nieder“, scherzte Silke. Der Ausflug versprach immer besser zu werden, wenn sie diesen Mann an ihrer Seite hier anblickte, der so unglaublich helle Wimpern hatte. Sie würde gern einmal ganz sachte darüber streicheln, über diese hellen, gebogenen Wimpern…

Der Schrei kam unvermittelt und so laut, dass Silke die Thermoskanne in den Schnee fallen ließ. Brauner Kaffee lief über weißen Schnee. Silke und Peter sprangen auf. „Das kam von da hinten!“, sagte Peter, und Silke nickte. Peter lief schon los, seinen Rucksack hatte er einfach liegenlassen. Silke folgte ihm. Rote Stiefel hinter schwarzen Boots. Peter lief schnell, Silke kam kaum nach und dachte, wie merkwürdig es war, dass dieser zurückhaltende Mann, der wie ein zarter Elbe auf sie wirkte, jetzt auf einmal so entschlossen und kraftvoll rannte, während sie selbst auf ihren Plateausohlen mühsam hinterherstolperte. „Peter, warte doch!“, rief sie und ärgerte sich, dass sie keine richtigen Wanderschuhe angezogen hatte.

Peter kam zuerst zu der Stelle, an der die Schlucht sich öffnete. Er hatte sie schon auf dem Hinweg bemerkt und unwillkürlich geschaudert bei dem Gedanken, dort hinabzustürzen. Peter litt an Höhenangst, und dieser Abgrund war steil genug, um seine Fußsohlen kribbeln zu lassen. Er hatte sich sogar kurz vorgestellt, wie es wäre, hier einen Schritt ins Leere zu tun - um dann schnell wieder den Blick auf die Baumstämme an der anderen Seite zu lenken, so wie er das in dem Höhentraining gelernt hatte.

Dann sah Peter die Frau, die im Schnee saß - das war doch Maja! Ihr schien schlecht geworden zu sein, denn Peter sah Erbrochenes im Schnee. Was war denn hier los?

Inzwischen hatte Silke ihn erreicht, sie keuchte, ihr Gesicht war ganz rot. „Was ist passiert?“, rief sie, „ist jemand abgestürzt?“ Natürlich, dachte Peter, warum habe ich nicht gleich daran gedacht? Das ist es, hier ist jemand in die Schlucht gefallen! Er rannte weiter, bis er Maja erreicht hatte. Kurz überlegte er, ob er Angst haben würde, hinunterzuschauen, aber nein, dafür war jetzt nicht die Zeit und der Ort. Dort unten lag jemand! Jemand in einer roten Jacke, mit gelben Handschuhen und einer passenden gelben Mütze. Ob Mann oder Frau, konnte er nicht erkennen.

Peter wandte sich ab. Es war merkwürdig. Noch auf dem Hinweg hatte er sich vorgestellt, wie er selbst fallen und sterben könnte. Und jetzt stand er hier, vollkommen furchtlos, und statt seiner lag dort unten jemand ganz anderes. Ein Mensch, dem das Schicksal den Tod zugedacht hatte, vor dem er, Peter, sich selbst gefürchtet hatte.

Peter wusste auf einmal, dass er nie wieder Angst vor der Höhe haben würde. Sein Blick fiel auf die roten Stiefel von Silke, rotes Leder in weißem Schnee. Silke sah fassungslos aus, nein, mehr: entsetzt und auch ängstlich. Und in ihrer Hand hielt sie immer noch ein angebissenes Käsebrötchen.

Maja hatte etwas gesagt. "Was meinst du, Maja?", fragte Peter. Maja sah auf zu ihm. Erbarmungswürdig sah sie aus, bleich, rote Augen, zitternde Lippen. "Es ist nicht Andreas", murmelte sie.

Natürlich nicht Andreas. Peter schüttelte den Kopf.

Es war merkwürdig. Peter war es bewusst, dass er sich an einem Wendepunkt des Lebens befand. Hier war der Tod. Er hatte Angst und Schrecken über die Frauen gebracht. Aber ihm, Peter, hatte er ein Geschenk gemacht: das der Furchtlosigkeit.

"Ich werde ewig leben", dachte Peter.

Andreas

Andreas hatte gehofft, seine Sekretärin Silke würde sich ihm anschließen. Aber natürlich ging das eigentlich gar nicht, denn sie war ja zu Fuß unterwegs.

Er überlegte, warum es ihn ärgerte, Silke und Peter nebeneinander den Pfad zurück in den Wald einschlagen zu sehen. Es war ja nicht so, dass er etwas von Silke wollte. Sie sah gut aus und war eine prima Frau – aber das bedeutete nicht, dass er, Andreas, etwas anderes von ihr erwartet hätte als das, was im Rahmen ihrer beruflichen Beziehung üblich war.

Andreas hörte im Geiste die Stimme seiner geschiedenen Frau: „Und was genau gehört zu dem Üblichen in der Beziehung zwischen dem ach so wichtigen, hohen Tier, dem gnädigen Herrn Klinikleiter, und der schönen, jungen Sekretärin? Mach dir doch nichts vor, genau das, was du gerade denkst! Ach, was heißt, was du denkst – wohl eher, was du in irgendeinem Teil deines herrlichen Körpers fühlst. Gefühle sind ja so wichtig, wenn man in einer Suchtklinik arbeitet. Einfühlungsvermögen, das ist es, was dich auszeichnet, du toller Mensch! Am liebsten fühlst du dich allerdings in die goldene Silke ein, weniger gern in die widerlichen Alkis, für die dein hocheffizienter Laden geschaffen wurde. Du alter Heuchler!“

So könnte es immer weitergehen, Andreas kannte die Rhetorik seiner Ehemaligen besser, als ihm lieb war. Zum Glück war diese zermürbende Ehe längst Vergangenheit. Trotzdem: Andreas war deprimiert. Ihm wurde auf einmal bewusst, was er war: ein Chef, der überzeugt war von seinen Qualitäten, der aber den Betrieb, den er leitete, nicht besonders schätzte. In einer Klinik zählte eben, auch wenn er selbst das natürlich nicht so sah, vor allem die medizinische Kompetenz. Andreas wusste, dass die Klinik mit einem Arzt (oder einer Ärztin, dachte er säuerlich) schon längst hätte schließen müssen. Seine Arbeit war die Basis für das reibungslose Funktionieren des Hauses, für die Arbeitsplätze des medizinischen und pflegerischen Personals, für die Existenz dieser Einrichtung schlechthin. War das aber auch seinen Mitarbeitenden bewusst? Sicherlich nicht. Für sie, und auch für die unangenehmen Patienten, zählten nur die Leute im weißen Kittel. Sie verstanden nichts von den Zahlen, die hinter der hochgerühmten Heilkunst standen.

Nein, Andreas machte sich nichts vor: Er war Leiter der Klinik, aber wenn er sich mit seinen ehemaligen Kommilitonen vom BWL-Studium verglich, dann konnte er einpacken. Sowohl geldlich, als auch in Bezug auf Wertschätzung und Respekt. Die einzige, die ihn als richtigen Chef ansah, das war seine Sekretärin. Und die war gerade ungerührt mit dem unscheinbaren Pfleger verschwunden, während er hier allein herumstand, sich unwohl fühlte, fror und lustlos an einen anstrengenden Abstieg zum Gasthaus dachte. Ja, er war ein nur halbwegs erfolgreicher Durchschnittsmanager, der nicht gut Ski fahren konnte – und außerdem ein Mensch, dessen Knie schmerzten: ein Mann, der langsam, aber stetig und unvermeidlich älter wurde.

Und da kam auch noch diese unerträgliche Sozialarbeiterin angefahren: Kerstin. Bei ihrem Anblick: forsch, energiegeladen, mit einer Mütze, die ihr nicht stand, was sie aber ganz offensichtlich überhaupt nicht interessierte – fiel Andreas ein, dass er Kerstin seit dem Aufbruch vom Gasthaus überhaupt nicht mehr gesehen hatte. Mit einem demonstrativen Hüftschwung kam sie neben ihm zu stehen. „Ist das nicht ein herrlicher Morgen?“, donnerte sie gleich los. " Ich habe ein paar Extra-Runden gedreht. Hatte keine Lust auf das lahme Gezockel." Ihre Augen glänzten, ihre Wangen waren rot – das alles machte sie aber auch nicht schöner oder sympathischer, dachte Andreas in dunkler Stimmung. Er murmelte etwas zur Begrüßung. Kerstin sah ihn an. „Ist dir kalt?“ Andreas knurrte Zustimmendes. Hoffentlich würde sie jetzt nicht gleich mit einem Vorschlag kommen. Er wollte und brauchte keine Unterstützung von einer Angestellten, die nicht mal studiert hatte, aber glaubte, immer alles zu wissen.

Natürlich war alle Hoffnung vergebens. Kerstin wartete gleich mit mehreren Vorschlägen auf: sie könnte ihm heißen Tee besorgen (wo?). Man könnte gemeinsam zurück schlittern, sie beherrschte das Skifahren ja gut und werde ihn unterstützen (unverschämt!). Oder sie könnten auch zusammen zu Fuß absteigen, schließlich könne man Skier auch auf der Schulter tragen (unerträglich neckisches Lachen).

Schließlich wurde Andreas sie los, indem er behauptete, er habe sich mit einer neuen Bekannten (bestimmt nicht mit jemandem wie dir!) verabredet, um gemeinsam zurück zu fahren. Er fügte maliziös hinzu, er wolle Kerstin auch nicht im Wege stehen, wenn sie, die sich doch sehr gut auf den Kufen bewege, schneller wieder an die Abfahrt machen wolle.

Das wirkte. Kerstin sah etwas verdattert aus, als sie abzog. Sie schaute sich nicht mehr um.

Ganz kurz überkam Andreas ein Unbehagen, das er sich nicht erklären konnte. Es hing mit seinen Lügen zusammen, aber auch damit, dass die stämmige und selbstbewusste Mitarbeiterin, die so kraftvoll Schwung holte mit ihren Skistöcken, auf einmal trotzdem so verloren wirkte, als sie allein davonfuhr. Sie nahm nicht die vielbefahrene Piste, auf der sich zahlreiche unsichere Ski-Anfänger tummelten. Stattdessen schlug sie einen schmalen, fast jungfräulich wirkenden Pfad ein, der viel steiler nach unten führte. Wenige Augenblicke später war sie aus seinem Sichtfeld verschwunden.

Andreas schüttelte den Kopf. Kerstin war unverwüstlich. Er musste sich um sie nun wirklich keine Sorgen machen. Inzwischen war es ihm allerdings wirklich richtig kalt geworden. Er hatte keine Lust mehr, sich mit den sperrigen Brettern abzukämpfen. Kurz entschlossen löste er die Schnallen, nahm die Skier ab, klemmte sie unter die Arme und begann den Rückweg zu Fuß. Diese Idee von Kerstin war gar nicht falsch gewesen.

Andreas überlegte, ob er Kerstin später zu einem Glas Glühwein einladen sollte, als Wiedergutmachung sozusagen. Doch ganz sicher war er sich nicht. Sie könnte das auch wieder als Entschuldigung oder gar als Schwäche und als Eingeständnis einer - wie auch immer gearteten - Bedürftigkeit missverstehen.

Dieser Ausflug erfüllte bisher die Erwartungen nicht, die Andreas an ihn geknüpft hatte. Er seufzte und rutschte weiter den glatten Weg hinunter. Wolfspfoten müsste man haben … und überhaupt, die Geschmeidigkeit eines Raubtiers …

3. Januar – der Betriebsausflug ist gut drei Wochen vorbei, aber ich bin zurück

Ich sitze hier, an diesen alten, mächtigen Stamm der unendlich hohen Tanne gelehnt. Sie ist so groß, dass ich den Wipfel gar nicht sehen kann. Oder bin ich schon zu erschöpft dazu? Denn ich bin unendlich müde, und in meinem Kopf ist ebenso viel Schneegestöber wie hier um mich herum.

Wahrscheinlich sollte ich aufstehen. Ich erinnere mich, dass ich gelesen habe, man sollte sich im Schnee nicht hinsetzen, wenn man am Ende seiner Kräfte ist. Ich weiß sogar noch, dass es hieß, man werde dann so friedlich und sanft, und habe das Gefühl, alles sei endlich gut… Genau das fühle ich jetzt auch, und ich weiß, dass es nicht gut ist, aber ich kann mich im Moment nicht dagegen wehren. Ich möchte das zu Ende denken, was mich hier hinausgetrieben hat.

Klarheit, wenn das nur möglich wäre….

Ich muss mich zusammenreißen, fokussieren. Ich stelle mir vor, eine Kamera in den Händen zu halten. Die Linse ist geöffnet, ich stelle Entfernung und Belichtung ein und richte das künstliche Auge auf die Szene, derer ich mich zu erinnern versuche, dort oben, beim Turm, im Schnee. Das war am 11. Dezember, vor mehr als drei Wochen.

Ich sehe: mich selbst, wie ich gerade meine Skier polierte. Ich hatte auf dem Hinweg zum Turm das Gefühl gehabt, sie seien stumpf geworden und nicht so leicht über den Schnee geglitten wie am Tag zuvor. Deshalb hatte ich sie abgeschnallt und neben mich gestellt. Das Wachs hatte ich im Rucksack mitgenommen, warum, wusste ich auch nicht so recht. Jedenfalls verteilte ich das Wachs jetzt auf den Brettern, in Laufrichtung, so wie ich es in der Anleitung gelesen hatte. Dann fiel mir ein, dass man die Skier danach eine ganze Weile nicht benutzen sollte, mindestens eine halbe Stunde lang. Ich stöhnte. Wie lästig! Ich hatte wenig Lust, hier so lange neben den Skiern Wache zu halten, in der Kälte und ohne eine bequeme Sitzgelegenheit.

Die halbe Stunde verging langsam, obwohl Lothar mit mir ausharrte. Wir liefen um den Tum herum, nicht zu weit von den Skiern entfernt, aber irgendwie mussten wir uns warm halten. Das gelang nur mit mäßigem Erfolg. Ich sah Lothar an. "Nicht so lustig hier oben, oder?" Er nickte. „Mir ist ziemlich kalt“, gab er zu. Es stimmte: der große Bärtige sah blass aus, und seine Lippen waren blau. Erstaunlich, was dieses Wochenende so alles offenbarte: Ungeschicklichkeiten (im Fall von Andreas), Sturheit in Bezug auf Wölfe, sowie eine leichte Gehässigkeit gegenüber dem Vorgesetzten (bei Maja), Animositäten, Empfindlichkeiten, Schwächen und offene Konflikte. Und jetzt noch dieser unverwüstliche Typ mit dem Erscheinungsbild eines Kraftprotzes, der hier neben mir stand und im Schnee fror.

Nach gefühlten Stunden war es soweit. "Wir können los!", rief ich gespielt fröhlich. Lothar verzog den Mund. Er schien tatsächlich völlig durchfroren zu sein. Offenbar waren Teile seiner Gesichtsmuskeln eingefroren, so dass er nicht mehr richtig lächeln konnte.

Ich schnallte die Bretter an und zog meine Mütze zurecht und wir begannen mit unserem Abstieg. Zuerst fühlte ich mich steif und ungelenk, knickte bei dem Überfahren einer im Schnee verborgen liegenden Wurzel oder etwas Entsprechendem fast um, erwischte auch immer wieder Zweige, die mir wie kalte Finger durch das Gesicht strichen und versuchten, mir die Mütze vom Kopf zu ziehen. Doch nach einiger Zeit wurde es besser. Wir ließen die Menschen zurück, der Pfad, auf dem wir uns fortbewegten, wurde schmaler und gewundener. Die Abfahrt, wenn man es so nennen wollte, begann, mir Spaß zu machen. Ich stellte mir vor, eine Pionierin in der Wildnis zu sein, die sich – weitab von vorgepflügten Pisten – ihren Weg zu der einfachen Blockhütte bahnen muss, die sie mit eigenen Händen errichtet hat. Wir wurden auch schneller, der Schnee pulverte leicht um uns herum.

Als wir uns einer großen Tanne näherten, die auffiel, weil sie einzeln dastand, bremste Lothar plötzlich. Er machte das, indem er die Füße und damit auch die Skispitzen nach innen drehte. Die Bremsung kam unerwartet, aber glücklicherweise war ich weit genug von ihm entfernt, so dass ich nicht in ihn hineinfuhr, sondern mich selbst rechtzeitig zum Stehen bringen konnte. Mir gelang sogar eine professionelle Drehung zur Seite.

Stolz wandte ich mich meinem Kollegen zu, um zu sehen, ob er meine Geschicklichkeit bemerkt hätte. Ich musste etwas lachen, als ich ihn ansah: „Wie ein zu groß geratenes Kind, das dringend zur Toilette muss“, dachte ich. Doch dann rief Lothar: „Sag mal, Jana, wo ist denn eigentlich Kerstin?“

Ich glaube, ich wusste sofort, dass etwas passiert sein musste.

Ich konnte mich nicht erinnern, Kerstin seit dem Aufbruch zum Turm überhaupt gesehen zu haben. Vermisst hatte ich sie natürlich auch nicht. Im Gegenteil: zweimal hatte ich tatsächlich überlegt, wo sie sein könnte. Und mich jedes Mal gefreut, sie nicht entdecken zu können.

Ich weiß nicht, ob es die Kälte war, oder das plötzliche Erschrecken von Lothar. Aber mich überkam auf einmal eine merkwürdige Gewisssheit: Kerstin war etwas zugestoßen. Es gab einen Zusammenhang, es musste ihn geben: zwischen meiner Aversion gegen Kerstin, meinem Wunsch, sie möge einfach nicht da sein, wo ich war. Und zwischen ihrem Verschwinden in diesem urtümlichen, wunderschönen und grausamen Wald.

Ich stöhne. Das Stöhnen findet wieder hier statt: hier, in meiner Verlorenheit im Wald, an der Tanne sitzend, im Schneefall, ohne Lothar, ohne andere Kollegen, und auch ohne Orientierung, und vor allem: ohne Kraft.

Oh Gott, mir ist so kalt. Immerhin ist mir noch kalt, ich habe das Stadium noch nicht erreicht, in das Menschen kurz vor dem Erfrieren gelangen, wenn sie auf einmal meinen, ihnen wäre viel zu heiß. Sie reißen sich dann verzweifelt die Kleider vom Leibe – und sterben in eisigen Höhen.

Wo ist meine Gedankenkamera? Ich benötige sie, ich muss doch die nächste Szene filmen, die eine, alles entscheidende Szene, um die es eigentlich geht…

Mühsam konzentriere ich mich darauf, wieder Schärfe und Belichtungszeit einzustellen – bildlich gesprochen, natürlich. Selbst in meiner Vorstellung sind meine Finger steif und dunkelrot, sie können das Rädchen an der Spiegelreflex – natürlich muss es die beste sein, womöglich eine Minolta – nicht mehr richtig drehen. Es ist einfach zu kalt, ich schaffe es nicht mehr…. Doch, ich schaffe es, und zwar mit purer Willenskraft. Das war immer schon meine größte Stärke: etwas zu wollen, und es dann auch zu erreichen.

Auf einmal ist sie da, die Szene, überdeutlich, klar und scharf.

Wir, Lothar und ich, haben beschlossen, nicht umzukehren und nach Kerstin zu suchen. Wir sind zu der Überzeugung gekommen, dass sie als die beste Skifahrerin von uns allen allein zurechtkommen würde. Wir waren schon so weit gefahren, dass eine Umkehr zum Turm undenkbar war. Also glitten, stiegen und kurvten wir mehr oder weniger souverän weiter bergab. Meine unheilvolle Gewissheit schob ich beiseite.

Dann geschahen drei Dinge. Der dichte Wald öffnete sich unvermittelt und gab freie Sicht auf eine große Lichtung. Gleichzeitig brach die Sonne durch die Wolken und ließ das Weiß auf der weiten Fläche der Lichtung funkeln und strahlen. Und ein Rascheln ließ uns zusammenfahren, bis wir den Hasen sahen, der nur wenige Meter vor uns aus dem Wald kam, kurz erstarrte und dann mit großen Sprüngen die kalte Winterwiese überquerte.

Ich sehe diese Szene genau vor mir, sehe auch, wie Lothar und ich uns anlächeln, scheinbar ist Lothars Gesichtsmuskulatur wieder aufgetaut. Es ist ein Moment der Versunkenheit in die winterliche Schönheit des Waldes. Ob diese Ahnung von etwas Schrecklichem auch schon Teil der Szene war, wie ich sie zu der Zeit und an diesem Ort erlebte? Oder ist dieses Gefühl von Dunkelheit und von Tod nachträglich in das Bild gekommen, durch das Erlebte und Erinnerte?

Weiter. Es ist kalt, ich muss mich beeilen, sonst schaffe ich es nicht mehr.

Ich gleite auf das Feld der Lichtung. Es ist wunderschön, jeder einzelne Schneekristall wird durch die Sonne sichtbar. Über uns ist der Himmel jetzt völlig blau und sehr hoch. Und dann sehe ich die Spuren. Es sind Spuren von Skiern, die sich bis an das andere Ende der Lichtung ziehen. Das andere Ende, das ist ein Abgrund, ein steiler Abhang. Von hier, etwa in der Mitte der Lichtung, sieht man die Wipfel der Bäume, die sich dort hinunterziehen: sie sind weiter unten, wie auf einer tieferen Etage. Und dort, am Rand zum Abgrund, sehe ich drei Menschen. Es dauert nur wenige Sekunden, dann erkenne ich sie: Maja hockt im Schnee, ihr mühsames Keuchen ist deutlich zu hören. Peter steht neben ihr. Und Silke sitzt etwas entfernt von den beiden auf einem Baumstumpf und sieht verfroren und irgendwie verloren aus.

Es ist zu kalt, oder ist es doch schon heiß? Ich kann es nicht mehr sagen. Die Rinde des Baumes, an dem ich lehne, ist jedenfalls warm. Warm und schützend. Der Baum schützt mich. Solange ich hierbleibe, kann mir nichts geschehen. Ich werde für immer hierbleiben. Etwas schmerzt, aber ich kann die Quelle nicht lokalisieren. Der Schmerz ist ein dumpfes Gefühl, ein Teil von mir. Was mache ich überhaupt? Warum bin ich hier? „Weiter!“, stöhne ich. „Bring es zu Ende. Jetzt. Es geht schnell, ganz schnell, und dann ist es geschafft.“

Schnell ging es auch, als ich mich über die Lichtung auf die Gruppe zubewegte. Ich weiß, dass ich überlegte, ob jemand gestorben war. Nein, ich überlegte nicht, sondern ich war vollkommen sicher: Dort, jenseits des Abhangs, wartete der Tod.

Wie entstehen unsere Gedanken? Kennen wir unsere Motive, beherrschen wir unsere Handlungen? Was wissen wir von uns selbst? Manchmal glaube ich, in uns lauern verschiedene Persönlichkeiten, die nur auf den richtigen Moment warten, um hervorzubrechen. Dann wieder bin ich sicher, dass es sich lediglich um chemische Prozesse handelt. Irgendein Botenstoff gerät auf Abwege, etwas geschieht, auf das wir keinen Einfluss haben – und schon ist es um uns geschehen.

Ich zwinge mich, die Augen zu öffnen. Ich sehe mich selbst dort oben stehen und in die Schlucht blicken. Und dann spüre ich wieder die Erkenntnis kommen: Dort unten liegt Kerstin. Sie ist tot.

Ich glaube, genau das habe ich laut gerufen: „Kerstin ist tot!“ Ich weiß noch, wie mir das in diesem Moment ganz klar war. Und wie ich Kerstin vor mir sah, selbstbewusst und unverblümt, und dass es für mich keine Überraschung darstellte, wie Kerstin gestorben war. Kerstin war eine ständige Provokation gewesen, nicht nur für mich, sondern für alle. Und jetzt lag sie dort unten, weil sie jemand über den Rand gestoßen hatte. Und das Schlimmste war: Irgendwie war es gut so. Es war so, wie es sein sollte.

Es war gut, dass Kerstin tot war.

Ich war dann neben Maja in die Knie gesunken. Plötzlich fühlte ich mich ganz schwach. Als Lothar neben mir ankam – ich spürte seinen Schatten über mir, ich hörte auch seine Stimme, aber ich konnte die Worte, die er sprach, nicht verstehen -, da weinte ich schon. Langsam fielen Tränen auf die roten Flecken im Schnee.

An mehr kann ich mich nicht erinnern.

Ich bin wieder hier, drei Wochen später, allein, halb erfroren. Und auf einmal höre ich etwas. Ich hebe meinen Kopf, lausche. Ich habe das Gefühl, dass meine Ohren sich aufrichten, wie die eines Tieres...

Das ist es. Es ist ein Tier, nein: es sind mehrere Tiere. Ich kann es nicht glauben. Ich sitze hier, die Tränen laufen mir über das Gesicht, ich fühle mich schuldig am Tod eines Menschen. So schuldig, dass ich selbst glaube, sterben zu müsssen. Und jetzt, genau in dieser Sekunde, höre ich sie. Wölfe.

Seltsam. Ich weiß auf einmal, dass die Wölfe mir gefährlich werden können. Ich bin leichte Beute. Der Winter ist hart, die Sonne steht schon tief, ich bin ganz allein, erstarrt und hilflos. Und noch etwas weiß ich auf einmal: Ich will leben. Schuld ist eine Sache. Der Tod eine ganz andere. Tot ist Kerstin, die in die Schlucht gestürzt ist. Ich weiß nicht, wie das geschehen ist. Niemand weiß es. Aber ich habe nichts mit ihrem Tod zu tun. Das ist mir auf einmal klar. Ich fühle mich schuldig. Aber mich trifft keine Schuld.

Und endlich verstehe ich, dass ich leben werde.

Ein Jahr später, in der Suchtklinik W.

Die Bilder sind beeindruckend, findet Anette Münchner, die neue Klinikleiterin. Sie blickt wohlgefällig auf die Reihe der kleinformatigen Zeichnungen, die die Wand des gesamten Ganges im ersten Stock der Klinik schmücken. In den großen, schwarzen Rahmen kommen sie gut zur Geltung.

Es sind fein gezeichnete Szenen, mit einem sehr dünnen Pinsel auf raues Papier geworfen. Die Patienten nennen sie die „Winterbilder“. Tannen sind dort zu sehen, deren Zweige mit Schnee beladen sind. Der Himmel ist manchmal grau und schwer, auf anderen Bildern hellblau, und auf Anettes Lieblingsszenen fallen Sonnenstrahlen durch Baumwipfel. Alle Farben sind nur ganz leicht angedeutet.

Jana hat diese Bilder gemalt. Bevor sie gekündigt hat.

Jana hat mehrere Monate nach dem Tag, an dem sie fast erfroren wäre, wie wild gemalt. In dieser Zeit sind die kleinen Bilder entstanden. Sie war wie in einem fieberhaften Rausch, die Kollegen in der Klinik haben sich Sorgen gemacht. Aber irgendwann war sie fertig, sie kam zu Anette und bat sie, die Bilder als Leihgaben anzunehmen und in der Klinik aufzuhängen. Kurz danach kündigte sie. Sie lebt jetzt in der Schweiz. Es geht ihr gut, sie schreibt ab und zu Nachrichten und hat auch einmal eine Karte geschickt.

Auch Maja hat die Klinik verlassen. Sie sagte, sie werde für einige Zeit in die USA gehen und dort in einem Wolfsprojekt im Yellowstone-Park arbeiten. Inzwischen hat sie einen Blog, auf dem sie regelmäßig Texte und Fotos postet. Auf den Fotos sieht man sie bei der Arbeit. Immer wieder ist auch ein schmaler, interessanter Mann zu sehen, von dem alle hier annehmen, dass es Majas Freund sein muss.

Mit Andreas, ihrem Vorgänger, steht Anette noch in Verbindung. Sie kennt ihn seit dem gemeinsamen Studium. Anette weiß, dass Andreas nicht so hartgesotten ist, wie er immer tut. Diese ganze Geschichte hat ihn unglaublich mitgenommen. Er hat sich Vorwürfe gemacht, meint, er hätte Kerstin vor dem Sturz bewahren können. Erst Monate nach seiner Kündigung konnte er besser damit umgehen. Jetzt geht es ihm recht gut, er hat sich in ein Start-up eingekauft und führt dort die Geschäfte für die junge Gründerin: eine langbeinige Person mit feuerroten Haaren…

Die anderen arbeiten noch hier: Peter und Silke sind jetzt ein Paar. Lothar ist nach wie vor ein verlässlicher Pflegedienstleiter. Er hat noch Kontakt zu Jana.

Wie es zu dem tödlichen Unfall kommen konnte, wurde niemals richtig geklärt. Dass es ein Unfall war, scheint unstrittig.

Anette wendet sich von den Bildern ab, schiebt die Gedanken an die Gruppe beiseite und geht weiter. Irgendwie könnte man diese Geschichte für die Aufarbeitung von verbotenen inneren Wünschen und Schuldgefühlen nutzen, gerade hier, bei der Arbeit mit den Suchtpatienten.

Aber glücklicherweise ist sie ja nur für die Geschäftsführung zuständig. Jedenfalls wird sie kein gemeinsames Wochenende für ihr Team vorschlagen. Wer weiß, was da alles aufbrechen würde… Möglicherweise käme sogar wieder jemand ums Leben? Am Ende noch Tanja, die ständig alles in Frage stellt und dabei so unerträglich sanft aussieht.

Anette sieht Tanja vor sich, wie sie versehentlich von hinten erschossen wird, von einem Jäger, der sie im Halbdunkel für einen Wolf hält… ein grausames Bild.

Anette bemerkt nicht, wie sie unwillkürlich bei dem Gedanken daran lächelt.

E N D E


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