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Die Grausamkeit der Schaufensterpuppen

Donnerstag, 4. April 2019

Sie sind schön. Und sie sind überall.

Was Sie schon immer über Schaufensterpuppen wissen wollten.


Sie stehen da: nackte Figuren, kahle, androgyne Köpfe. Manche haben angeklebte Wimpern, damit sie als Frauen erkennbar sind. Sie schieben die Hüften vor, die Knochen ragen magersüchtig heraus. Die Hände haben sie in die Taille gestemmt – es sieht schwer behindert aus, wie sie das machen. Soll das etwa kokett wirken? An den steifen Körpern hängen Kleider: modisch, jugendlich. Um hohe Stirne schlingen sich bunte, freche Tücher. Ketten baumeln von blassen Handgelenken.

Ist das unser Bild von uns selbst? Verrenkte Gestalten, schlank und glatt. Irgendwie selbstbewusst, trotz deutlicher Verkrüppelung. So stellt man sich typische Opfer von Psychopathen vor: Ausstrahlung kühl und aufreizend zugleich, Statur einer narzisstischen Vogelscheuche. Mit Sicherheit unfähig zur Flucht. Angriff: möglich, aber lachhaft (Stoß mit der spitzen Hüfte? Gleichzeitiges verzweifeltes Heulen?) Das wäre etwas! Die kann man fertig machen, und ihnen vielleicht zum Schluss noch die coolen Klamotten um den lächerlich stolzen Hals drapieren.

Szenenwechsel.

Wir wissen, wie ihr über uns denkt.

Seid wachsam: Wir hören eure Gedanken. Ihr eilt an uns vorüber, betrachtet uns und denkt: das sind nur Puppen. Nur? Wenn ihr es wüsstet!

Die Urteile, die uns treffen, sind geboren aus eurer Gier. Was tragen wir? Wie sieht das aus, wie sähe dieses Kleid an euch aus? Nur daran denkt ihr doch. Uns bemerkt ihr kaum. Und wenn, dann schaut ihr verächtlich auf uns herab. Hässlich! Abstoßend! Unwirklich schlank! Keine Haare!

Ist es euch bewusst, was ihr da tut?

Seid ihr sicher, wer hier Opfer ist und wer Täter?

Wartet, wir werden uns rächen. Wir planen unsere Vendetta. Ihr ahnt nichts davon, das ist ja das Lustige. Ihr haltet euch für so schlau! Zum Lachen ist das.

So wird es aussehen:

Es ist später Abend, längst haben die Geschäfte geschlossen. Auf der Haupteinkaufsstraße sind nur wenige Menschen unterwegs: auf dem Weg zu einer Party, oder zur Bushaltestelle, oder auf der Suche nach einem Schlafplatz im geschützten Eingangsbereich. Auf ein Signal hin steigen wir von unseren Podesten. Die Kleider, die wir tragen, wehen an unseren glatten Körpern. Unsere Schmuckketten klirren. Haare, die wir zurückstreichen müssten, haben wir nicht.

Unsere Bewegungsfreiheit ist begrenzt. Die Arme können wir schwenken. Wir haben Scharniere in der Hüfte und können unseren Oberkörper drehen. Es mag steif aussehen – es sieht steif aus, das ist uns bewusst, wenn wir unser Spiegelbild in den Schaufenstern erblicken, aus denen wir uns erhoben haben. Aber wir können gehen.

Treffpunkt ist das Rathaus. Das ist der passende Start unseres Nachtspaziergangs. Wir haben uns ein System überlegt, eine Ordnung. Im Rathaus herrscht auch Ordnung.

Es sind viele von uns gekommen. Kollegen und Kolleginnen aus den großen Kaufhäusern, aber auch aus kleineren Boutiquen. Die letzteren sind meistens nicht so professionell ausgestattet wie wir anderen. Ihre Arme bestehen manchmal nur aus bügelartigen Drähten. Einige haben lediglich einen Torso. Die meisten von uns sind hellhäutig. Modisch gesehen, sind wir eine heterogene Truppe. Jeans und Lederjacken finden sich neben Blumenkleidern. Vornehme Blusen über Faltenröcken für die Dame von Stand. Kragenloser Rippenpulli für junggewünschte Männer, Anzug mit gewagt rosafarbenem Hemd für den Herrn, der weiß, was er will. Shorts, die nur an uns gut aussehen, Pluderhosen und bauchfreie Tops, die niemandem wirklich stehen. Seht ihr, was ihr uns antut?

Wir spiegeln uns auf dem nassen Pflaster des Rathausplatzes. Unsere Art zu gehen ist lautlos. Die Oberfläche der Pfützen kräuselt sich nicht einmal. Ein Vogel erschrickt und schwingt sich eilig in die Höhe. So viele Gruselgestalten auf einmal!

Wenn du ein Partygänger auf dem Heimweg bist, wirst du zunächst nichts hören. Aber du spürst etwas, irgendetwas Unbestimmbares in deinem Rücken. Aus diesem Gefühl heraus wendest du dich um. Und dann gefriert dir das Blut in den Adern. Du siehst eine Armee von verunstalteten Puppen auf dich zumarschieren. Die Puppen sind größer oder kleiner, sehen jung und kindlich aus, mehr oder weniger menschlich. Ihre Arme schwingen unkontrolliert vor und zurück, während sie steifbeinig und leicht verdreht voranschreiten. Die Augen sind weit geöffnet. Der starre Blick fixiert nichts. Sie rücken geschlossen vor. Kein Laut ist zu hören.

Du weißt nicht, wie dir geschieht. Ist das wirklich wahr? Stehst du hier, um 11 Uhr abends, mitten im Zentrum deiner mittelgroßen, eigentlich recht friedlichen, überschaubar-aufregenden Stadt, und siehst eine Armee modisch gekleideter Puppen auf dich zukommen? Die künstlichen Körper wirken in Kombination mit den stilvollen Stoffen noch abstoßender. Grauenvoll, bedrohlich. Wie Kettensägen in Boxershorts, oder wie Äxte mit eleganten Zylinderhüten. Du überlegst, ob du die Arme unter die Beine nehmen und nicht einfach so schnell wie möglich davonrennen solltest. Aber grausig-fasziniert stehst du nur da und gaffst.

Die Puppe ganz vorn ist eine besonders große. Sie trägt ein langes, gelbes Sommerkleid und eine kurze Jeansjacke. Die Füße bewegen sich, als steckten sie in Schuhen mit sehr hohen Absätzen, obwohl sie eigentlich nackt sind. Die Puppe setzt nur die Fußballen auf. Bei jedem Schritt dreht sie sich zu einer Seite, erst nach rechts, dann nach links, dann wieder nach rechts. Warum sie das macht, wird dir schnell klar: sie kann eigentlich nicht die Beine selbst bewegen, sondern nur die Hüften. Die Arme fliegen in schnellem Rhythmus nach vorn, nach hinten, nach vorn, nach hinten. Der Kopf bleibt unbewegt.

Du merkst, wie sich deine Nackenhaare ganz langsam aufrichten. Ein Frösteln überzieht deine Haut. Du musst wegrennen! Warum bleibst du so stocksteif stehen? Du bist wie festgenagelt! Was starrst du die Truppe von glatthäutigen, großäugigen, feingliedrigen Krüppeln an? Mach, dass du wegkommst!

Genau so wird es sein für dich. Du wirst nicht wissen, ob du deinen Augen und Ohren trauen darfst. Du siehst uns, aber du hörst uns nicht. Wir sind wunderschön, und wir sind entsetzlich krank. So etwas Hässliches wie uns hast du noch nie erblickt.

Wir sind nicht aufzuhalten. Schritt für Schritt, Hüftverrenkung für Hüftverrenkung, kommen wir näher. Unsere durch die Luft sirrenden Arme schlagen gegeneinander, treffen auf Schultern und Köpfe anderer Puppen. Eine weiße Hand durchtrennt die feine Kette, die der Vorgängerin um den Hals hängt. Einem starren Puppenmädchen wird ein alberner Cowboyhut vom Glatzenkopf gefegt. Ein Torso wird niedergestreckt und bleibt stumm und bewegungslos auf dem Gehsteig liegen. Aber wir anderen sind gleich bei dir. Warum läufst du nicht davon?

Wie auch immer. Wenn du stehen bleibst, sind wir in wenigen Sekunden da. Du wirst nichts spüren. Du wirst nichts hören. Du hast noch zwei Sekunden, um dich zu entscheiden.

Ein. Zwei.


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