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Er und sie

Sonntag, 15. November 2020

Was Sie schon immer über Nähe und Distanz wissen wollten ... und über das natürliche Ende von wunderbaren Dingen ...


ER und SIE

ER

Der Anfang – ich erinnere mich:

Die Sonne bricht vorsichtig durch zarte Schleierwolken und taucht dich in ein verhaltenes, fast weißes Licht, als ich dich treffe. Ich bin geblendet, nicht von dir – so bist du nicht -, sondern von den Punkten im Wasser der Pfützen zu deinen Füßen: wie ein Spiegel dient es den Strahlen der Sonne, die harmlos eintauchen in die zitternde Oberfläche, nur um dann zurückzuschnellen und sich als schmerzende Pfeile in meine Augen zu bohren.

Kurz überfällt mich die Befürchtung zu erblinden.

Du lachst, etwas zu laut. Das ist dein Markenzeichen, auch wenn ich es noch nicht weiß. Seltsam: Mich trifft gerade die Erkenntnis, dass man immer nur von einem Anfang spricht, wenn eine Sache zu Ende gegangen ist. Vorher denkt man gar nicht über Zeitpunkte nach, sondern lebt unbekümmert im fortwährenden Geschehen.

Unser Geschehen ist vorbei.

TEIL I

ER

Natürlich Paris. Eine andere Kulisse wäre nur zweitrangig. Und diese klitzekleine Geschichte ist, in ihrer ganz eigenen Art, erstrangig.

Allerdings ist es nicht das schicke Paris mit den Straßencafés unter hohen Bäumen, mit Ausblick auf den Arc de Triomphe. Es ist auch nicht das Paris der Künstler und Bohémiens, mit dem Charme heruntergekommener Fassaden, vor denen sich Intellektuelle miteinander herumtreiben und Wichtiges besprechen. Nein, unser Paris, das sind die ärmeren und reizloseren Straßen in der Nähe der Gare du Nord, wo unser Tagungshotel liegt. Wir sitzen in einem Café, draußen auf dem Trottoir, ja, das schon. Aber der Verkehr fließt ziemlich nah vorbei. Der Blick fängt ein paar recht nette Häuser ein, die aber auch in Göttingen stehen könnten, finde ich. (Mir ist klar, dass du das bestreiten würdest. Ich bin ein Spielverderber der Stimmungen, war ich schon immer.) Als der Kellner, der auch der Besitzer zu sein scheint (möglicherweise ist er ebenfalls der Koch), endlich meinen Café au Lait bringt, ist dieser nur lauwarm. Das Croque Monsieur ist eindeutig aus einer Tiefkühlpackung in der Mikrowelle erhitzt. Ich esse es trotzdem, schließlich habe ich Hunger. Den Kaffee betrachte ich einfach als Durstlöscher, mehr ist er nicht.

Ich bin so konzentriert auf meinen Sättigungsprozess, dass ich aufschrecke, als du beginnst, mich nach meinen Erfahrungen mit Messen an verschiedenen Orten der Welt zu fragen. Zu dem Zeitpunkt kennen wir uns schon eine Weile. Diesmal blenden mich weder Sonne noch Lichtspiegelungen im Wasser. Ich finde deine Fragen allerdings etwas naiv, und dich nicht mehr jung genug für soviel Unschuld. Spielst du mir etwas vor? Misstrauisch beginne ich zu erzählen: wie in meiner Zeit in Barcelona Gespräche an Ausstellungstischen schnell in Verhandlungen übergingen, woran ich Kunden erkenne, die nur spionieren wollen, und wie ich mich vor zu vielen Einladungen „auf einen Drink“ schütze. Du hakst nach, kritisierst ständig meine Pauschalaussagen (was mich ärgert: du wolltest es doch wissen!), und dann lachst du unvermittelt. Weißt du eigentlich, dass du merkwürdig aussiehst, wenn du lachst? Du ringst zu schnell nach Atem, das ist es wahrscheinlich. Ein alter Sänger hat mir einmal gesagt, dass wir Menschen zu viel durch die Brust und zu wenig durch den Bauch atmen – ein Ergebnis unseres aufrechten Gangs. Das ist es, was ich an dir beobachte.

Weißt du, ich wollte gar nicht mit dir befreundet sein. Ich habe mich bemüht, meine Stellung als Leiter der Marketingabteilung zu festigen: gegenüber dem Vorstand, der diesen Bereich auslagern wollte, und gegenüber der neuen Strategieabteilung mit ihren Plänen für digitale Messen. Ich dachte, du könntest ein Bindeglied darstellen. Schließlich warst du Teil des Teams „Business Intelligence“. Aber bei dir ging es ja immer nur um Datenbanken und Kundenprofile. Die funktionieren so oder so, denke ich jedenfalls.

Trotzdem fiel mir an diesem Nachmittag in dem schäbigen Café zum ersten Mal der leicht metallische Klang deiner Stimme auf. Ich weiß nicht, ob mir das gefiel oder nicht. Wahrscheinlich keins von beidem, denn so schnell bin ich gar nicht mit Beurteilungen. Eine Beurteilung bedeutet, einer Sache nahe zu kommen, und das ist etwas, das ich vermeide. Nicht aus Angst, sondern aus Unbehagen. Nähe führt zu Störungen: des Alltags, der Effizienz, der Routine und des Seelenfriedens. Das meine ich überhaupt nicht verbiestert. Ich bin gern mit Menschen zusammen, ich genieße durchaus Gesellschaft, gutes Essen und Trinken. Aber ich finde es albern, wenn man glaubt, es könne überhaupt so etwas wie Nähe zwischen Menschen entstehen. Letztendlich sind wir alle Naturwesen, die Bedürfnisse erfüllt sehen möchten: Nahrung, Raum, Handlungsfreiheit in einem begrenzten Rahmen, und soziale Bindung, die der Sicherheit dient. Mit dem überladenen Begriff der „Nähe“ hat das nichts zu tun.

Jedenfalls fiel mir deine Stimme auf. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, glaube ich, dass es der Gegensatz war, den ich da bemerkte: Deine sachlichen, wenn auch etwas unreflektierten Fragen, die ungerührte Stimme, und dann deine geradezu indiskrete Art, zu lachen.

Wir sahen uns später alle die Pläne der Messebetreiber für das Ausstellungsdesign an. Auf dem Weg in die Halle fuhr mir ein frischer Windstoß durch die Haare. Neben mir ging der Kollege, den ich am wenigsten mochte von allen: ein Aufschneider und Angeber, der nie eigene Ideen hatte, aber die Vorschläge anderer Leute aufsaugte wie ein Schwamm, um sie zu speichern und dann zu einem späteren Zeitpunkt als seine Gedanken aus dem porösen Gehäuse dessen zu wringen, was er sein Gehirn nannte. Er trug an jenem Nachmittag eine jugendlich anmutende Baseball-Kappe. Sein Gesicht war trotzdem alt und verlebt. Jedenfalls grinste er mich an und kommentierte meine Erscheinung im Wind mit den Worten, ich könne von Glück sagen, dass ich so dichtes Haar besitze. Irgendeine Erklärung über sich aufblähende Hosenbeine, eine rote Nase und das naheliegende Bild einer männlichen Vogelscheuche ergänzte die Geschichte über mich: den Mann, der so ernst in die Welt schaut, dass ein Windstoß ihn schnell zu einer lächerlichen Gestalt machen kann. Ich erwiderte, dass ich mir ebenfalls eine Baseball-Kappe zulegen würde, wenn ich nicht mit einem üppigen Haarwuchs gesegnet wäre. Das wirkte. Er zog ab.

Stattdessen kamst du dann und meintest, dieses ganze Messegelände sei schlecht angelegt. Die vielen Schluchten zwischen den einzelnen Gebäuden und der große freie Platz in der Mitte wirkten kalt und abweisend. Als ich dich fragte, wie so etwas denn sonst aussehen solle, etwa wie ein Bauerndorf aus mittelalterlichen Zeiten, mit verhutzelten Häuschen und eine Dorflinde? -, da lachtest du wieder. Nein, so nicht, aber vielleicht wie ein großes Schiff, wie das Chile-Haus in Hamburg zum Beispiel. Schiffe standen immer schon für Handel, für Aufbruch, für Produkte aus allen Herren Länder. Und der pfeifende Wind hätte dann auch seine angemessene Kulisse.

Das war es wieder. Was du sagtest, war irgendwie stimmig, aber nur als Bild. Mit der Wirklichkeit hatte das nie das Geringste zu tun. Die Metapher des Handelsschiffes und der sturmumbrausten Reling war gut. Was hatte sie jedoch mit Ausstellungsstücken aus der Medizintechnologie zu tun, präsentiert im Herzen einer Großstadt, weitab vom Meer?

Jedenfalls dachte ich während der Gespräche mit den Messeleuten zu häufig an Architektur und zu wenig an die Gestaltung unserer Stände. Zwischendurch kam mir auch diese typische Bewegung von dir in den Sinn: Wie du, wenn du engagiert sprachst, immer die Hände über eine unsichtbare Klaviertastatur hieltest. Auf Brusthöhe, mit leicht gespreizten Fingern, als sollte der Tschaikowsky oder der Mussorgsky – auf jeden Fall etwas Volltönendes, Russisches – gleich losgehen.

Das Merkwürdige ist: ich bin eigentlich von Natur aus ein Pessimist, der nicht an Freundschaft glaubt. Ich suche auch keine Verbündeten. Ich halte das, ganz objektiv gesehen, für Quatsch. Wenn eine Sache gut durchdacht ist, kann man sie auch durchsetzen. Wenn nicht, dann hat jemand anderes vielleicht doch die bessere Sicht auf ein Problem, die besseren Argumente für eine Verhandlung. Oder aber es geht um etwas ganz anderes als um die Sache, und dann lohnt es sich nicht zu kämpfen. Ich verstehe bis heute nicht, wie es dazu kommen konnte, dass wir Verbündete wurden. Ich war nicht auf der Suche – weder nach Kampfgefährten, noch nach Seelenverwandten, und auch nicht nach einer Frau, die etwas Verborgenes, das friedlich schlummert und nicht vermisst wird, zum Erwachen und zum leicht-vibrierenden Klingen bringt.

Oh Gott, wie das sich anhört! Ich bin ein strenger Charakter ohne Hang zu Pathetik, schon gar nicht zu Rührung. Trotzdem verspüre ich ein Gefühl der Enge im Brustkorb, wenn ich an den Abend denke, an dem wir Hummer aßen. Das war einige Monate, bevor du weggingst.

Eine Erkenntnis habe ich jedenfalls gemacht: Beziehungen entstehen ohne aktives Zutun, einfach mit der Zeit. Nein, das stimmt nicht. Ich muss die Sache noch einmal verstandesmäßig angehen. Beziehungen sind in erster Linie das, was übrigbleibt, wenn man Begegnungen auf das reduziert, was immer gleichbleibt: nicht die einzelnen Gespräche, nicht die unterschiedlichen Anlässe und Themen, nicht einmal die Orte und Kulissen. Der gemeinsame Nenner aller Begegnungen mit dir war das seltsame Empfinden deiner Offenheit. Dir fehlten Schutz- oder Trennungswände. Und das führte dazu, dass auch ich meine Wände aufbrach.

ER

England, irgendwo im Norden

Der Hummerabend, das war in der nordenglischen Stadt, im April, aber in einem ungewöhnlich warmen, sonnigen Apriltag. Wir waren in unterschiedlichen Gruppen unterwegs gewesen, den Abend zuvor und auch den ganzen Tag lang. Ich hatte viel diskutiert mit diesen englischen Wunder-Designern, die so lang und ungerührt aussahen und dabei so atemberaubend kreativ waren. Mit dem einen, Peter, und seiner Chefin Martha hatte wir bis fast sieben Uhr an dem idyllischen Flussufer gesessen und Bier getrunken. Es war da unten schon fast zu „englisch“, um wahr zu sein: Der sorgfältig gepflegte Rasen des Cricket-Platzes. Die sanft zum Wasser sich neigende Wiese, auf denen Familien und Studenten Picknick hielten. Dann unser etwas unbequemer, aber doch lauschiger Platz am Ufer, von dem aus wir die schmalen Ruderboote der Universitätsmannschaften beobachten konnten. Die Enten, die, aufgeschreckt durch Steine, die ein kleines Kind in das Wasser platschte, schnäbelnd und klagend aufflogen. Dazu das Bier und die anregende Unterhaltung.

Natürlich war ich schon etwas betrunken, als ich bei dem Fischrestaurant ankam, an dem wir uns alle versammeln wollten. Und natürlich musstest du da vor dem Pub sitzen, mit einem Glas Cider in der Hand, im Gespräch mit zwei Engländern und einer Japanerin aus deiner Gruppe. Ihr wart so laut, so ungezwungen, und auch dir sah man den Alkohol an. Deine Augen leuchteten.

Ich wollte den Abend so gern ruhig ausklingen lassen. Etwas Leckeres essen, noch ein Bier trinken vielleicht, oder einen Wein, und dann gemütlich in mein Hotelzimmer gehen. Warum hast du mich aufgefordert, mir auch einen Cider zu holen? Natürlich war es schön. Wir haben getrunken, wir haben über Veränderungen gesprochen. Ich halte nicht viel von Veränderungen. Sie sind oberflächlich, denn eigentlich bleibt doch vieles gleich. Man selbst, die Definition dessen, was das Leben ausmacht, die Art und Weise, wie man sich als Person positioniert: all das stellt eine große Konstante dar, auch wenn man sich an einem anderen Ort befindet.

Ich weiß nicht mehr, was du genau gesagt hast. Jedenfalls war es klar, dass du Veränderungen für unausweichlich hieltest. Ja, jetzt erinnere ich mich. Du meintest, es sei besser, eine Veränderung selbst anzustoßen und aktiv zu gestalten, als von ihr überrascht und am Wickel gepackt zu werden. Im Nachhinein betrachtet, stimmt das sogar. Du hattest Recht.

Es war der Abend der großen Hummerschlacht. Ich wusste genau, wie man diese Viecher knackt und das Fleisch aus ihnen saugt. Aber da saßen wir, nebeneinander in der großen Gesellschaft, unter dem schönen dunkelbraunen Gebälk des alten Wirtshauses. Ich habe wahrscheinlich eine ganze Menge Unsinn geredet. Ein Cider kam zum nächsten. Und du hast meine kultivierte Art, mit Hummern umzugehen, so schonungslos als ineffizient enttarnt. Nichts gelang mir mehr, unter deiner Kritik an meinen leichten Drehbewegungen, unter dem Gelächter der ganzen Tafelrunde. Am Ende habe ich auch gelacht. Ich wollte so gar nicht lachen. Es hat mich durch und durch geschüttelt. Dieser vermaledeite Hummer. Deine blaue Bluse, die deine Schultern freiließ. Und dieser ganze, total untypisch warme englische Abend. Wahrscheinlich war alles nur die Folge der Überschwangs, der über Menschen kommt, die in sehr gemäßigten Temperaturzonen mit hohen Niederschlagsraten leben, wenn sie auf einmal einer Luft ausgesetzt sind, die so lau und weich ist, wie man es sonst nur vom Mittelmeer kennt. Jedenfalls holte ich tief Luft und brach ein großes Stück meiner Mauer heraus. Herein strömte diese warme Luft, der Geruch nach altem Holz, und der leichte Geschmack von Cider. Und du kamst durch meine Mauer zu mir herein, lachend.

Später sagtest du irgendetwas mit deiner Stimme, die nach Zinn klang: nach Zinn, der mit dem Hammer bearbeitet wurde und jetzt gerade schwer zu Boden fällt. Auf Eisenplatten. Und ich begann zu verstehen, dass ich meine schöne Mauer tatsächlich aufgebrochen hatte, und ich überlegte, was das mittelfristig bedeuten würde. Ich realisierte: Die Tatsache, dass jetzt dieses Loch in meiner Mauer klaffte, dass meine persönlichen Grenzen niedergerissen waren – dieser Akt der Zerstörung würde Folgen haben. Irgendwann, wenn auch vielleicht nicht sofort. Dein Einbruch in meine Welt konnte nichts Gutes bringen. Weder für dich noch für mich. Oder?

SIE

Hallo, lieber Freund!

Ja, ich wage es, dich so zu nennen. Auf eine gewisse Art warst du ein Freund. Natürlich nicht mein Freund, dieses besitzanzeigende Pronomen mag ich nicht, es steht für eine ausschließliche Bindung, und die gibt es nur zwischen Menschen, die miteinander verwandt sind: Mein Kind, ja, das könnte ich sagen, so wie es mich „meine Mutter“ nennen würde. Aber „mein Mann“? Wenn ich verheiratet wäre, würde ich das wahrscheinlich so ausdrücken, weil das eben so üblich ist. Passend fände ich das trotzdem nicht, auch wenn ich nur mit einem einzigen Mann verheiratet wäre. Ich mag dieses Verständnis von Menschen nicht: als wären wir anderen als Eigentum zugeordnet, immer hübsch auf die Funktion reduziert, in der wir dem anderen wichtig sind.

Du warst natürlich in keinerlei Hinsicht „mein“ Freund. Nichts Öffentliches haftete unserer Beziehung an. Alles, was wir teilten, war privat. Bis auf das Ende, ironischerweise.

Weißt du, ich schreibe dir, obwohl ich noch gar nicht weiß, ob ich dir diese Worte jemals überhaupt schicken werde. Aber ich bin so randvoll von Gedanken und Fragen, dass ich sie unbedingt zu Papier bringen muss. Und alle meine Worte gehen ja nur uns beide etwas an.

Bist du bereit?

Ich möchte dir erzählen von den Treffen, die unsere Geschichte abbilden. Es waren eigentlich nur diese vier Male – seit dem ersten Mal. Und das Merkwürdige ist, dass es bei jedem Treffen so anders zwischen uns zu sein schien. Fandest du das auch?

Der Anfang war in England. Wir befanden uns beide außerhalb unserer normalen Alltagswelt. Keine Kollegin und kein Kollege, denen wir uns hätten erklären müssen. Keine Frau (bei dir), die hätte belogen werden müssen. Dafür der dreifache Rausch: der eines wunderschönen englischen Tages, der einer malerischen Kulisse wie aus einem dieser Oxfordkrimis, und natürlich auch der des guten Ciders. Du hattest ein ganz untypisches Funkeln in deinen Augen, und du warst so verspielt, wie ich dich noch nie erlebt hatte. Vorher kannte ich dich lustig, geistreich, auch sarkastisch. An diesem Abend warst du albern, und dann – später – so kleinlaut, dass ich kurz davor war zu gehen. Stattdessen bekam ich dann diesen Lachanfall. Ich hatte auf einmal die Illusion, dass wir gar keine Menschen, sondern stattdessen Wölfe sein könnten: zwei mitteljunge Tiere, die sich außerhalb ihres Rudels getroffen, beschnuppert und Gefallen aneinander gefunden haben, bis sich der eine Wolf – du – schließlich auf den Boden wirft, vorsichtig mit dem Schwanz wedelt und die Wölfin schräg von unten anschaut, als wolle er – du – um Erlaubnis fragen.

Ich hoffe, meine Vergleiche und meine Sprache sind dir nicht zu drastisch! Doch, bestimmt sind sie das. Aber das magst du ja auch irgendwie, selbst, wenn es dir peinlich ist - stimmt´s?

Zum Glück hast du in mein Lachen eingestimmt. Wir konnten gar nicht mehr aufhören damit. Dann hast du mich auf das Bett gezogen. Danach erinnere ich mich nur noch an die wunderschöne Decke in deinem altenglischen Hotelzimmer: hellgestrichene Balken, die herrliche Bilder umrahmten. Da war eine Jagdszene mit einem dicken, alten Adligen auf einem Pferd, das so aussah, als würde es gleich zusammenbrechen. Rundherum Hunde, die Füchsen hinterherhecheln – ja, ich hörte sie gleichsam hecheln. Entschuldige bitte, schon wieder ein so bildlicher Vergleich! Nein, nicht bildlich, sondern akustisch. Ich komme aus diesen angedeuteten Obszönitäten nicht heraus – herrlich, nicht wahr? Kann man Obszönitäten andeuten? Ja, natürlich kann man das.

Jedenfalls bleibt mir von dieser Nacht: der Blick auf gehetzte rote Pelztiere, ein goldenes Horn, zum Jagdruf an die Lippen gehoben. Eine Szene voller Spannung, ein fliegender Wechsel zwischen Jägern und Gejagten. Zum Schluss verschwamm alles vor meinen Augen, nur der Blick des Fuchses zurück zu seinen Häschern, der blieb als Standbild vor mir stehen…

Am nächsten Morgen waren wir beide sehr müde, und doch elektrisiert. Meine Haut fühlte sich an wie aufgeladen. Kein Wunder: uns fehlte die Erdung.

… die dann schnell kam, in Form unseres Alltags, zurück in Göttingen. Trotzdem schafften wir es, schon eine gute Woche später ein neues Treffen zu arrangieren. Das war deine Idee: diese Blockhütte im Harz. Weit genug entfernt von der Stadt und den Menschen, die uns dort kennen. Wir sind getrennt angereist, genauso, wie es in Romanen immer beschrieben wird. Oder auch in Krimis. Und so kam es mir auch vor: Dieses zweite Treffen war ein Krimi. Für dich war es schwerer als für mich: du musstest deiner Frau erklären, wo du über Nacht sein würdest. Es edelt dich, dass du mir deine Geschichten nie erzählt hast. Ich hätte sie nicht hören wollen. Deine Frau, die habe ich von Anfang an weit weggeschoben. Zuerst hat sie mich lange Zeit überhaupt nicht interessiert, und dann war mir der Gedanke unangenehm. Ich habe einfach immer so getan, als gäbe es sie nicht.

Aber zu unserem Krimi: Das Setting stimmte. Eine Auffahrt über eine steile und kurvige Straße durch den Wald. Riesige Bäume, ein bereits nachtdunkler Himmel. Ich befürchtete schon, mich verfahren zu haben, hatte keinen Handyempfang. Ich verfluchte meine Idee: Ich hatte vorher plötzlich beschlossen, noch eine Tankstelle zu suchen, um Wein zu kaufen. Natürlich nur, weil ich Angst hatte vor unserer Befangenheit bei diesem zweiten, kaltblütig geplanten Rendezvous. Über der Suche und dem Weinkauf war es spät geworden, so spät, dass ich schließlich durch einen stockfinsteren Wald fuhr und wusste: wenn jetzt etwas passiert, mit dem Auto zum Beispiel, dann übernachte ich hier auf kalt-moosigem Grund bei Wildschweinen, vielleicht in unmittelbarer Nähe von noch ganz anderem, furchteinflößenden Getier.

Dann, endlich, sah ich ein Hinweisschild zu dem kleinen Ort, an dessen Rand die Hütte stehen sollte – „hinter dem Friedhof (wie passend!) die kleine Straße ein Stückchen bergauf“. Wie erleichtert war ich, durch Straßen mit erleuchteten Häusern zu fahren! Ich wusste, wenn jetzt etwas geschieht, dann erfahre ich hier nur Gutes und Hilfsbereites. Und da kam auch schon der Friedhof. Das kleine Stückchen bergauf war mehrere Kilometer lang und versetzte mich diesmal eher in eine Stimmung des Genervtseins. Musstest du so weit weg von der Welt flüchten? War es so abgrundtief böse für dich, was wir hier machten, dass du dich vor den Augen aller zu verbergen suchtest? Mit jeder Kurve nahm mein Ärger zu. Aber dann kam die letzte Biegung, und mein Blick weitete sich: eine Lichtung, die zwar im Dunkel lag, aber Frieden und Ruhe erahnen ließ. Zwei hell erleuchtete Fenster, ein Schornstein, aus dem es rauchte - denn es war kalt an diesem Abend. Dein Wagen vor der Tür. Mein Herz begann schneller zu schlagen. Ich konnte es kaum noch erwarten, riss meinen Rucksack und die Tasche mit dem Wein vom hinteren Sitz, schlug die Türen zu, vergaß, abzuschließen und rannte in die Hütte. Und da warst du.

Ich glaube, da habe ich erst verstanden, dass es mir ernst mit dir wurde. Du hast vor dem Kamin gekniet und das Feuer angefacht. Auf dem Tisch standen Vorräte: Brot und Käse, Kuchen, Obst. Gläser, eine Karaffe mit Wasser, zwei Weinflaschen (den Abstecher zur Tanke hätte ich mir also sparen können). Und dann hast du aufgeschaut. Dein Gesicht war rot vor Hitze, vor Anstrengung und – ja, auch vor Freude, mich zu sehen. Es war wie ein Nachhausekommen.

Später natürlich ging es weiter mit dem Krimi. Nachdem wir zuerst lange vor dem Feuer gesessen und unsere Blicke frei aneinander, ineinander, übereinander hatten wandern lassen – danke für diese Erfahrung! Ich wusste bis dahin nicht, dass Blicke genügen, um so viel in Gang zu setzen! -, also nach dieser Kaminstunde kam der Anruf auf deinem vermaledeiten Handy, das du nicht ausgeschaltet hattest – nicht einmal stumm gestellt. Du bist nach draußen gegangen, und ich habe Brot und Käse gegessen. Das hatte ich dringend nötig. Du hast lange telefoniert, und als du wieder zurückkamst, hast du dir – ganz klassisch – sofort ein großes Glas Wein eingeschenkt.

Diesmal gab es kein Bild an der Decke. Du warst da, mit deinen Haaren, die so metallisch glänzten und in jener Nacht ein Eigenleben entwickelten. Du warst für mich ein Landherr, der reiche Grundbesitzer im Walde, der gekommen war, um sich seinen Lohn für die verpachtete Hütte zu holen. Und der zugleich auch selbst seinen Zoll bezahlte, für die Anmaßung, ein Pachtherr zu sein… Bevor ich einschlief, fiel mir ein Stern auf, der durch das kleine Fenster oben sein kaltes Licht abwarf. Du schliefst schon. Ich konnte die Umrisse deines Handys erkennen, auf dem Nachttisch, in Reichweite. Mich schauderte plötzlich.

Ich glaube, bis heute weißt du nicht, wie sehr mir deine Nervosität am nächsten Morgen zu schaffen gemacht hat. Heute weiß ich: Es war zu hell draußen, es war Samstag und viele Menschen fuhren mit ihren Autos zum Einkaufen. Bei jedem Aufbrummen eines Motors bist zu aufgeschreckt. Ständig warfst du einen Blick aus dem Fenster, oder auf deine Armbanduhr (du trägst tatsächlich noch eine Uhr am Handgelenk! Ich kenne außer dir sonst niemanden mehr, der das noch macht), oder auf dein verflixtes Handy. Dann stand ich von unserem Frühstückstisch auf, um meine Sachen zu packen – und da warst du dann auf einmal bei mir. Diese wilde Zärtlichkeit, die du nicht zurückhalten konntest – es war schön und schrecklich zugleich, dich so zu sehen. Du warst wie getrieben, ein Mensch, der außer Kontrolle gerät und den diese Erfahrung ganz schlimm beutelt.

Jedenfalls werde ich das Muster des Teppichs vor dem Kamin nicht vergessen: rote Quadrate, gesäumt von schwarzen Punkten, die eine Linie andeuten. Am Ende jeder Quadratreihe ein merkwürdiger schwarzer Pfeil (oder etwas, das einem Pfeil stark ähnelte), in Schussrichtung nach außen, aus dem Teppich hinaus. Wie viele Bilder hast du mir geschenkt!

Und dann kam der dramatische Schlusspunkt unseres Harz-Krimis: Es klopfte jemand an der Tür. Wir fuhren beide hoch. Unser erster Blick ging zum Fenster – waren die Vorhänge zugezogen? Ja, sie waren zu. Aber sie waren auch kurz! Sie endeten gut 20 Zentimeter über der Fensterbank. Wie in Zeitlupe erlebten wir, wie sich ein Gesicht draußen am Fenster vor diese Lücke schob. Wir konnten uns nicht rühren vor Schreck, blickten beide in die zugekniffenen Augen eines Menschen, der versuchte, im dunkleren Raum etwas zu erkennen. Dann warst du endlich auf den Beinen. Deine Stimme, als du riefst: „Ich komme gleich, einen Moment bitte!“ Diese Stimme, die um Beherrschung rang und doch alles preisgab! Der Bauer und Hüttenbesitzer wird sich schon sein Teil gedacht haben, lieber Freund. Er war zwar alt, gebeugt und schwerhörig, aber vollends vertrottelt war er sicherlich nicht. Ich hätte alles übereinander anziehen können, was ich an Kleidung dabeihatte, er hätte mich trotzdem mit seinem Blick aus den hellen, wässrigen Augen durchbohrt. Du hättest dir sämtliche Decken, die in der Hütte verteilt lagen, überwerfen und dein Gesicht noch dazu hinter Sonnenbrillengläsern und hochgezogenem Schal verbergen können – der alte Mann, der sein Geld holen wollte, hätte trotzdem mit gnadenloser Schärfe erkannt, dass du kurz zuvor nichts am Leibe hattest.

Wir haben gemacht, dass wir wegkamen. Du in deinem schicken, schnellen Wagen, mit den Essensresten in wildem Durcheinander auf der Rückbank. Ob du das noch alles weggeräumt hast? Deine Frau … aber das war dein Problem. Ich stieg in meinen schönen alten Jeep und fuhr so schnell davon, dass ich meinen Rucksack vergaß. Als ich halb durchs Dorf durch war, merkte ich es, fluchte und wendete. Der Rucksack stand vor der Hütte, sanft an die Hauswand gelehnt.

Das war unsere zweite Begegnung.

Willst du mehr hören? Ich schlage vor, dass ich darauf verzichte, so viele womöglich schwierige Einzelheiten vor dir auszubreiten. Stattdessen möchte ich dir meine Bilder schenken, die ich aus unseren Treffen mitgenommen habe. Und dazu liefere ich dir kostenlos eine Überschrift, nein, eine Unterschrift: einen Titel, der unter dem Bild steht. Diese meine private Galerie öffne ich für dich, und den Schlüssel darfst du behalten. Mach damit, was du möchtest: bewahre ihn an einem geheimen Platz auf, zum Beispiel ganz hinten in der Schublade deines Schreibtisches im Büro, oder tief vergraben im Werkzeugkasten in der Garage. Meinetwegen kannst du ihn auch in den Tümpel in eurem Garten schmeißen. Pass nur auf, dass deine Frau ihn nicht eines Tages entdeckt, wenn sie das modrige Wasser abschöpft… oder wenn sie einen kleinen Goldfisch kauft und dort aussetzt.

Das erste Bild war also der Fuchs, der gejagt wird und seinen buschigen roten Schwanz wie einen zischenden Pfeil hinter sich herzieht, während er um sein Leben rennt. Die Bildunterschrift lautet ganz schlicht: Jäger und Beute. Du darfst selbst wählen, wer was war – beziehungsweise: wann und für wie lange?

Das zweite Bild in meiner Galerie ist ein Triptychon – so nennt man doch diese dreiteiligen Altargemälde? Sie gruppieren sich trefflich um einen schönen, alten Kamin aus roten Ziegeln. Das erste Gemälde zeigt einen dunklen Wald. Bedrohlich stehen die Bäume nebeneinander. In der Ferne, man muss schon genau hinschauen, ist ein Licht zu erkennen. Es ist so weit weg, dass man nicht weiß, ob es zu einem Haus gehört. Aber man ahnt es.

Das Hauptbild in der Mitte meines Triptychons ist ein Stern, umrahmt von einem Holzfensterrahmen. Der Stern funkelt geradezu erbarmungslos, unerbittlich. Ganz unten am Rand des Fensters taucht etwas Merkwürdiges auf: Sind es Grashalme? Es könnte auch ein Fehler der Malerin sein – hat sie hier ihren Pinsel unkontrolliert zu dicht an das Papier gehalten? Du überlegst, schaust noch einmal hin: und erkennst deine eigenen Haare, die sich, ohne es zu ahnen, dem fernen fremden Stern entgegen richten.

Die dritte Tafel: eine heimelige Hütte, Ansicht von außen. Es scheint gutes Wetter zu sein, die steinerne Stufe am Eingang und die Haustür tragen Sonnenstreifen. Neben der Stufe, an der hölzernen Wand, lehnt ein Rucksack. Gefällt dir dieses Gemälde? Es ist stimmungsreich, und die Unterschrift ist nicht, wie du denkst. Nein, kein Krimi. Unter den Bildern steht: Lockruf des Waldes. Kitschig? Aber so war es, so ist es. Und daran konnte auch dein Handy nichts ändern.

Nächste Station: Diesmal ist es ein übergroßes Wandgemälde, in einem Museum. Oder in einer Scheune, an einer frisch geweißten Wand. Das Setting: ein Ausflugslokal im Grünen (deshalb passt die Scheune wirklich gut). Bunte Blumen, die sich über die halb verfallenen Zäune ringeln. Sonnenschirme über hellen Holztischen. Farbige Stühle, mit kindlichen Mustern noch zusätzlich kreativ gestaltet: weiße Punkte auf blauem Grund, Marienkäfer auf gelben, Schmetterlinge auf grünen Flächen. Menschen, die glücklich sind in der Altweibersonne. Fahrräder und Bollerwagen. Auch unsere Fahrräder lehnen dort am Schuppen, siehst du sie? Siehst du uns? Wir sind auch glücklich, fühlen uns wohl in dieser Wald- und Wiesenwirtschaft. Wir vertilgen große Stücke Kuchen mit Sahne und lachen. Wir sehen, wohl von der Fahrt hierhin, aufgeheizt aus: unsere Haut ist gut durchblutet, unsere Augen leuchten. Du wirkst viel jünger als sonst. Das Gebäude, vor dem wir sitzen, ist auch aus Holz und rot gestrichen. Oben, im ersten Stockwerk, sieht man ein offenstehendes Fenster mit hellen Schlagläden und einem grünen Herz. Es ist ein Gästezimmer und sieht aus, als wäre es nur für Verliebte. Alles auf diesem Bild wirkt unbeschwert und leicht. Dazu passt auch die Unterschrift: „Frühherbstliches Glück“.

Die nächsten zwei Seiten unseres Bilderbuchs zeigen meine Wohnung. Du erkennst sie sofort: eine helle, eher zweckmäßig eingerichtete Angelegenheit mit einem einzigen auffälligen Merkmal: es hängt kein einziges Bild an der Wand. Im Mittelpunkt des Bildes: zwei große Sessel, der eine alt und etwas brüchig, der andere dagegen ausgesprochen schön, mit einem zartrosa Samtbezug und offensichtlich neu. Die Sessel sind einander zugewandt, aber sie wirken, leer wie sie sind, unfreundlich, abweisend und eher zufällig so gruppiert. Sie sehen so aus, als würden sie normalerweise ganz woanders stehen, nicht nur weiter voneinander entfernt, sondern sogar in unterschiedlichen Zimmern. Das ganze Zimmer wirkt verlassen. Siehst du, wie eine einzige farbige Vase auf dem etwas entfernt stehenden gläsernen Esstisch bemüht ist, Leben in das Bild zu bringen? Vergeblich. Und warum auch? Es ist ja niemand da. Du ahnst den Titel: „Verpasste Gelegenheiten“, im Plural, denn es sind zwei Bilder. Alles ist gleich, nur, dass einmal die Sonne durch das Fenster scheint und das andere Mal alles dunkel ist, da draußen.

Ich bin traurig, wenn ich diese Bilder betrachte. Und blättere schnell weiter zu unserem letzten Gemälde. Obwohl, Gemälde trifft es nicht. Es ist eine kleinformatige Zeichnung, sehr präzise gearbeitet, mit feinen, sehr klaren Strichen. Ein Strand ist dort zu sehen, das Meer, zwei Menschen, die Hand in Hand dastehen und auf die Weite des Wassers schauen. Die zarten Konturen stehen in scharfem Kontrast zu der Stimmung, die sich dunkelwolkig am Himmel zusammenbraut. Grün-weiße Wellen rollen dem Land entgegen, spritzende Gischt ist ganz akkurat in das bewegte Meer getupft. Der Gegensatz von Technik und Gegenstand ist bestürzend. Die beiden Menschen sind einsame Figuren, die sprachlos scheinen. Oder zutiefst versunken in den Anblick der wilden Elemente, das kann man nicht so genau sagen. Sie stehen dort als schwarze Silhouetten, irgendwie isoliert von allem, sogar voneinander – obwohl sich ihre Hände umklammern.

Merkwürdig ist der Rand dieser Zeichnung: Während sonst alles klar und strukturiert ist, technisch hervorragend gearbeitet, verwischen zum Rand hin die Farben. Das Bild ist mit Kreiden koloriert, die hier auf einmal wild und unbeherrscht und großflächig werden, als wären sie mit der Faust verteilt worden. Und hier kommt dann auch der Schlusstitel des Bilderbuchs. In kleinen, ganz ordentlichen Buchstaben. „Warten auf den Sturm.“

Nun ja, das war es, lieber Freund. Bitte schön, behalte das Buch. Wie gesagt, du kannst damit machen, was du möchtest.

ER

Dieser Ausflug in die Altmark, im Spätsommer. Es war nur ein Wochenende: Samstag früh bis Sonntagabend. Es waren wahrscheinlich die einzigen zwei Tage, an denen wir wirklich unbeschwert waren. Ich war es jedenfalls, und das so bedingungslos, wie ich es nie für möglich gehalten hätte. Denn ich bin selten unbeschwert, eigentlich nur unter Alkoholeinfluss, und nicht länger als wenige Stunden.

Aber schon als ich in Göttingen in den Zug stieg und mein Fahrrad festmachte, spürte ich, dass ich von dieser unglaublichen Leichtigkeit erfüllt war. Es stimmte einfach alles: vom blauen Himmel mit fernen, zerfaserten Wolken hoch, hoch oben, bis zu der glückseligen Gewissheit, dass du in zehn Minuten zusteigen würdest. Ich glaube, ich war noch nie so gänzlich aufgehoben in der umfassenden, grenzenlosen Gegenwart des Lebens.

Dabei war die Woche schlecht gewesen: viel Ärger mit Kollegen – ich hatte mehrere anstrengende und, wie sich herausstellte: vergebliche Vorstellungsgespräche mit Bewerbern auf die Marketingstelle geführt, musste die Messe in Frankfurt vorbereiten, auf der wir den Stand mit diesen unsäglichen Gründerteams aus der Medizin würden teilen müssen. Außerdem waren Daten verschwunden, wichtige Daten mit prekären Informationen aus unserer Entwicklungsabteilung und zu unseren Hauptkonkurrenten. Ja, jene Daten – du weißt schon.

Trotzdem: alles war perfekt. Ich sah aus dem Fenster und wünschte mir nichts anderes als das, was ich sah und fühlte. Du hast es gespürt, als du zu mir in das Abteil kamst. Du hast mich mit einem merkwürdig wissenden Lächeln angesehen, und ich konnte zuerst gar nichts sagen, weil jedes Wort den Zauber der Perfektion gebrochen hätte. Du hast dich mir gegenüber hingesetzt, die Fahrradtasche stand zwischen uns auf dem Boden, wir haben uns nur die Hand gegeben. Aber nie waren wir uns näher als in diesem Augenblick. Ich weiß sogar noch genau, dass ich dachte: „Ich werde mich nicht erinnern können, was sie anhatte. Ich werde nur immer wissen, dass es das doch gibt: die totale Verschmelzung von zwei getrennten Lebewesen.“ Du hast das auch gespürt, nicht wahr? Und dann kam diese Frau mit den vielen Taschen und Tüten. Sie fragte atemlos, ob bei uns noch frei sei und begann dann, ihre diversen Gepäckstücke überall zu verteilen. Aus den Alditüten fielen Kleidungsstücke: merkwürdige, geringelte Schals und Handschuhe, die nicht zueinanderpassten. Du musstest lachen, und ich musste helfen, die schwereren Taschen oben in die Ablage zu wuchten.

Gibt es etwas Herrlicheres als zwei lange Tage mit dem einzigen Menschen, den man genau an diesen Tagen sehen möchte? Und gibt es etwas Besseres, als mit diesem Menschen über Wiesen und Felder Rad zu fahren, während die Sonne scheint? Wir waren in einem fremden Land, unter fremden Eingeborenen, die nichts mit unserem Leben zu tun hatten. Das einzige, was zählte, war unsere Gemeinsamkeit in diesem fernen, seltsamen Land, von dem wir noch nie gehört hatten, und, da bin ich sicher, in das wir auch niemals wieder werden reisen können. Weißt du noch, dieses graue Dorf mit den schäbigen Häusern, die sich hinter steinerne Mäuerchen duckten, als wollten sie sich vor uns verstecken? Du meintest, es hätte mit der politischen Vergangenheit zu tun, und du musstest so lachen, als ich erwiderte, wahrscheinlich wollten diese Häuser nur beinhebende Hunde vermeiden. Dann kamen wir zu dem Dorfplatz, und es war wie in dem Lied: wirklich kein schöner Land, und wirklich die Linden, unter denen die Bank stand, auf der wir saßen, den geschmückten Dorfbrunnen bewunderten, unser Picknick vertilgten, und danach fast vergaßen, dass wir nicht allein waren… Weißt du noch, der Zug der Gänse, als wir dann wieder diese Wiese durchfuhren? Die Wiese sah an dem Tag so aus, als hätten wir Sommer, aber die Gänse brachen schon in den Herbst auf. Sie flogen dicht über uns hinweg, die riefen klagend, und es war so wunderbar und zugleich so traurig. Wir hielten an, schauten nach oben, sahen uns an und wollten nicht aussprechen, was wir dachten.

Ich klinge wie ein Romantiker, dabei bin ich das gar nicht. Ich war es auch da nicht, und ich wusste das, aber die Erkenntnis lag ganz tief verborgen und spielte keine Rolle. Ich war an diesem Tag ein anderer Mensch. Und du warst Zeugin meiner Verwandlung. Nein, das stimmt nicht ganz, du warst nicht nur Zeugin, du warst Begleiterin, Gefährtin. Ja: Gefährtin. Das war es. Wir waren Gefährten in einem unbekannten Land, in einer Zeit, die zugleich begrenzt und unendlich war.

Abends war dann wieder die Stunde des Leichtsinns und der Jugendtollheit. Der Garten mit den verschiedenfarbigen Sesseln und Stühlen, die anderen Gäste, die so bieder und ernst aussahen im Vergleich zu unserer geradezu beschwipsten Unbekümmertheit. Wir brauchten keinen Tropfen Alkohol, um ganz, ganz jung zu werden. Und später, als ich dich ansah, wie du das Kissen unter deinem Kopf mit den verwuselten Haaren zurechtgerückt hast - es war ein hellblau und gelb gestreiftes Kissen -, da hätte es der Moment sein können, der alles entschieden hätte. Wenn ich es gesagt hätte. Oder du. Einer von uns.

ER

Grauenhaft, diese Erinnerung an unser Treffen in Den Haag-Scheveningen. Wir hätten uns woanders trennen sollen. Ich weiß, dass Entscheidungen immer unausweichliche Konsequenzen haben. Du willst das nicht wahrhaben, aber es ist so. Wir können uns schließlich nicht über die Naturgesetze erheben. Und meine Entscheidung ist schon vor so langer Zeit gefallen, vor unendlich langen Jahren.

Hast du es nicht gemerkt, dass unsere Geschichte immer nur dann wichtig wurde, wenn wir weit weg von unserem Alltag waren? In Paris, in Nordengland, im Harz, in der Altmark. Es waren Stationen auf einer Reise, die unwiderruflich irgendwann zurück an unseren Heimatbahnhof führen musste. Mir war das immer klar.

An der Nordsee, in Scheveningen, ein paar Kilometer weit weg von der furchtbaren Strandbar-Meile, da habe ich mich geärgert, weil du die Realität einfach nicht anerkennen wolltest. Ich weiß, wir haben gar nicht über uns beide gesprochen, sondern über Politik. Eine Diktatur hat ihre eigenen Gesetze, und ein Durchschnittsmensch kann die nicht ändern. Das habe ich aus voller Überzeugung gesagt, und ich meine es noch heute. Du warst wütend und hast auf die Widerständler verwiesen, die es immer und überall gab. Ja, habe ich gesagt, aber das waren besondere Menschen mit besonderen Fähigkeiten und einer eigenen Geschichte. Die Mehrheit der Menschen gehörten nicht zu diesem Schlag, wir beide auch nicht – das waren meine ungefähren Worte. Das hat dich noch wütender gemacht und du hast mich fast getreten. Ich habe gefragt: „Wolltest du mich gerade treten?“, und da musstest du wieder lachen, dieses merkwürdige metallische Lachen, das du hast. Ich musste zwar auch lachen, aber ich wollte meinen Punkt deutlich machen. Ich habe ausgeführt, wie viele Eigenschaften des Menschen auf das Überleben ausgerichtet sind, und auch, dass das natürlich und unvermeidlich ist. Wir wollen leben, und nicht für unser privates Prinzip etwas aufs Spiel setzen. So sind wir eben, und wenn man das feige oder bequem nennen will, dann ist das nur eine Wertung, die nichts besagt.

Ich weiß nicht, wann die Stimmung umgeschlagen ist. War es schon da oder erst kurze Zeit später? Ich weiß nur, dass es mir wichtig war zu betonen, dass wir keine Helden sind. Ich meinte das nicht abfällig. Aus meiner Sicht ist es aber wichtig anzuerkennen, was man ist. Man kann nicht in der Lüge leben, auch nicht sich selbst gegenüber. Ehrlichkeit ist tatsächlich ein Prinzip, das sich, biologisch gesehen, durchgesetzt hat.

Mir ist dann aufgefallen, dass du nichts mehr gesagt hast. Wir sind zurück zu den Kneipen und Bars geschlendert. Ich wusste plötzlich nicht mehr, was ich sagen sollte. Es wurde schon dunkel, ein leichter Wind kam auf. Dann fing es auch noch an zu regnen. Auf einmal war es alles zu viel. Diese verkorkste Reise, das schlechte Wetter. Und sogar du. Ich wollte zurück in mein Leben. Ich wandte mich dir zu, um es dir zu sagen. Und sah, dass du es schon wusstest. Du hast mich ganz ruhig angesehen, und dein Blick war beobachtend und distanziert. Als mir klar wurde, was gerade geschah, griff ich nach deiner Hand. Plötzlich war ich traurig. Und du ließest es geschehen: dass ich traurig war, und dass ich Trost bei dir suchte. Das war dein Abschiedsgeschenk.

Teil II

SIE

Göttingen, Landesobergericht

Als ich dich im Zeugenstand beobachtete, sah ich etwas in dir, das mir zuvor niemals aufgefallen war. Du sahst hart aus und streng. Deine Augen waren zu Schlitzen zusammengezogen, dein Mund fest geschlossen. Du hattest den Kopf etwas gehoben und blicktest auf mich und die anderen am Tisch herab. Prüfend, beurteilend. Und streng. Mir fiel plötzlich ein, wie die anderen immer über dich sprachen: Der Gnadenlose. Ich hatte das nie verstanden. Aber du hattest den Ruf, schlechte Angebote rücksichtslos auseinanderzunehmen, Schwachstellen und Ungenauigkeiten aufzudecken. Du warst gut als Einkäufer von Messeauftritten, sehr gut. Deine Stärke bestand vor allem darin, dass du die Produkte so genau kanntest. Jedes Gerät war dir vertraut. Du hattest einen umfassenden Überblick über alle technologischen Neuerungen. Du hinterfragtest auch die Software, unterhieltest dich häufig mit Programmierern. Ob es sich um Implantate zur Behandlung von Parkinson handelte, um die neuesten Smart-Watches für die Einstellung von Ernährung und Bewegung für Risikopatienten, oder um Aufnahmegeräte für die ambulante Behandlung von Schlafapnoe – du kanntest die Funktionsweise genau, wusstest über Konkurrenzprodukte Bescheid, konntest Alleinstellungsmerkmale benennen und fundiert begründen. Das waren natürlich hervorragende Bedingungen für die Schaffung einer optimalen Präsentation auf Messen und Ausstellungen. Aber da war eben auch die andere Seite, die, die ich immer für notwendig gehalten hatte: die Fähigkeit und die Bereitschaft, Kritik zu üben, ohne Rücksicht auf persönliche Belange. Die „Wahrheit der Sache“ über die Interessen von Menschen zu stellen. Bei schweren Verhandlungen hattest du dir den Ruf erworben, auf Details zu beharren und keine Kompromisse einzugehen, auch nicht, um Geschäftspartnern einen guten Abgang zu ermöglichen. Dein Blick war scharf. Merkwürdig, jetzt, in diesem Moment der absoluten Unpersönlichkeit, da verbarg dein Gesicht nichts. Es war so offen, wie es nur sein konnte: ohne eine Spur von Höflichkeit, von Weichheit oder Nachgiebigkeit. Die Sonne fiel durch die breite Fensterfront und ließ jede Einzelheit überdeutlich werden. Dein Blick war mir zugewandt, so direkt wie selten zuvor. Er war offen, klar, unverhüllt – und unnahbar.

Das war der Moment, in dem ich verstand, dass ich lügen musste.

Als die Anwältin, den die Firma beauftragt hatte, das Zimmer betrat, verstummten die Gespräche der Anwesenden. Ich kannte sie natürlich, von Berichten und Artikeln in Zeitungen und im Fernsehen. Sie war ziemliche berühmt. Anwältin Hofinger gegen Dieter Schwarz, den Vorsitzenden der Gewerkschaft, in der Sache Petersburger. Joe Petersburger hatte seine Erfindung, einen Stuhl, der sich mit ein paar Handgriffen, einigen leichten Platten und einer variablen Anzahl von Metallklammern binnen weniger Minuten wahlweise in eine Leiter oder in einen Tisch umbauen ließ. Eine geniale Erfindung, um die sich die Kunden der Büromöbelausstatter rissen, wie auch das Handwerk, die privaten Haushalte und die Gärtnereibetriebe. Als das Patent durchkam, gehörte der Leiter-Stuhl-Tisch schon der Firma. Joe Petersburger blieb nur der ruhmlose Abgang: er hatte seinen Job und seinen Ruf verloren, und vermehrt hatten sich lediglich seine Schulden. Die Firma verdoppelte das Gehalt von Frau Hofinger und gewährte ihr dankbar zahlreiche Begünstigungen: einen zweiten Firmenwagen, die Nutzung verschiedener Anwesen in Italien, in Kalifornien und auf einer traumhaften Insel vor der Küste Westafrikas: zur freien Verfügung für Urlaube und „Arbeitstreffen“. Die Firma konnte sich das leisten. Sie hatte durch das Patent ein Vermögen verdient, verdiente immer noch täglich daran. Die Bilder waren durch alle Medien gegangen: die schöne Frau Anwältin mit den langen schwarzen Haaren, jung genug (zumindest von weitem), um als „bezaubernd“ durchzugehen, und eloquent genug, um Furcht und Bewunderung hervorzurufen. Bei Freund und Feind, und auch in den Reihen des unbeteiligten Publikums.

Jetzt war sie hier, und der Raum vibrierte ob ihrer Präsenz. Auch du warst beeindruckt, das konnte ich sehen.

Eine merkwürdige Situation. Ich gegen dich, und zwischen uns eine eiserne Lady. Ich war die Whistleblowerin im eigenen Auftrag, die Geheimnis-Offenbarerin, die Tratschtante, die undankbare und illoyale Mitarbeiterin. Die Spionin und Entlarverin vom Dienst, nur ohne Sympathien und ohne Mission.

Frau Dr. Hofinger bat dich, den Sachverhalt zu schildern. Sie sagte wortwörtlich: „Darf ich Sie bitten, als Vertreter des Unternehmens die Sachlage zu schildern? So sachlich und faktenbezogen, wie es Ihnen möglich ist, bitte.“ Das war ganz schön dreist, fand sogar ich. Schließlich warst du ihr voraus: an Wissen um die Wichtigkeit von Fakten, an Gelegenheit zu wohlgewählten Worten, aber auch sonst ganz allgemein an Lebenserfahrung und Expertise. Du hast das nicht so empfunden, glaube ich. Du warst von der Anwältin beeindruckt und fühltest dich als Herr der Fakten. Ganz in deinem Element. Du hast deine Papiere geordnet und die Angelegenheit mit dem gestohlenen Stick geschildert (klingt das nicht wie der lächerliche Titel eines schlechten Krimis?!). Langsam und systematisch. Mir entging nicht, wie Frau Dr. Hofinger dich beobachtete. Wie sie, absichtlich oder unbewusst, ihre seltsam uneitlen Finger mit den kurzen, eckigen Nägeln streckte und dann begann, einen ungeduldigen Rhythmus auf den Tisch zu klopfen. Sie sah übrigens tatsächlich älter und weniger beeindruckend aus als auf den Fotos und im Fernseher. Ihre Haare waren eindeutig gefärbt. Und ihr Mund war schmal und ließ nicht eine Spur von Sinnlichkeit erkennen. Aber das nur nebenbei.

Und du, mein Kollege, mein Mentor, mein einst liebster, jetzt mir fremd werdender Mitmensch? Du hörtest zu, lauernd irgendwie. Sahst gerecht aus. Selbstgerecht. Und so anders, als ich dich kannte. Hatte ich dich je gekannt? Jetzt warst du mir fremd. Du saßest da und legtest Tatsachen offen.

Und ich log. Oh, wie ich lügen konnte, weil ich es musste.

Dr. Hofinger, zu mir: „Frau…, haben Sie die vertraulichen Daten auf Ihren Stick kopiert?“

Ich: „Nein, niemals.“

Du: „Selbstverständlich haben Sie das, Frau... Die Überwachungskameras haben alles aufgezeichnet.“

Ich: „Mir ist nicht bekannt von Aufzeichnungen. Ich kann nur feststellen, dass ich niemals Daten kopiert habe.“

Dr. Hofinger: „Die Aufzeichnungen der Überwachungskamera dürfen hier nicht als Beweismittel anerkannt werden, weil sie unrechtmäßig eingesetzt wurden, um Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zu kontrollieren.“

Du: „Obwohl diese Regelung Unsinn ist. Dieser Fall zeigt ja schließlich, wie wichtig die Überwachung der Angestellten ist.“

Das war nicht klug von dir. Frau Dr. Hofinger erteilte dir eine Abfuhr.

Du hast dich geärgert. Das habe ich gemerkt. Ich kannte dich zu gut. Ich habe oft beobachtet, wie du deinen Hals ganz lang machtest, wenn du ärgerlich warst: wie ein Vogel, der den Kopf soweit wie möglich hebt, um in einer unangenehmen Situation den Überblick zu wahren. Ich fand das oft lustig. Es war stets der Auftakt zu einem Wortgefecht, zu deiner Positionierung in einer Auseinandersetzung über ein beliebiges Thema: etwa eine geschäftliche Angelegenheit, eine Strategie, eine Entscheidung für oder gegen ein neues Projekt. Jetzt sah ich dich das wieder machen: den Hals strecken, die Vogelperspektive einnehmen. Und ich wunderte mich. Warum diese Kampfhaltung? Du hattest doch nichts zu verlieren?

Du: „Ich möchte eine Aussage zu einem möglichen Motiv von Frau … machen.“

Frau Dr. Hofinger, die gerade in ihren Papieren geblättert hatte, sah auf.

„Tatsächlich? Darf ich fragen, warum Sie eine solche Aussage anbieten? Sie sind nicht dazu verpflichtet, Sie sind hier lediglich als Zeuge geladen.“

Das gefiel dir nicht. Du sahst eine kurze Sekunde lang unsicher aus, dann wurde dein Mund ganz schmal.

„Ich fühle mich selbstverständlich verpflichtet, hier der Wahrheit zu dienen. Meine Aussage ist von Relevanz.“

Frau Dr. Hofinger zuckte die Achseln. Sie sah dich prüfend und eher abgeneigt an.

„Ich kann Sie nicht daran hindern, mache Sie aber darauf aufmerksam, dass noch nicht entschieden ist, ob Ihre Aussage überhaupt gewichtet wird.“

Es war seltsam. Ich begann zu verstehen, dass gerade ein ganz anderer Kampf hier stattfand als der zwischen mir und dir. Du wolltest diesem Prozess ganz deutlich eine Richtung aufzwingen. Und Frau Dr. Hofinger war sich dessen bewusst, und ihr passte es nicht, dass ein Zeuge auf einmal eine andere als die ihm zugewiesene Rolle einnahm. Sie selbst war diejenige, die hier die Kontrolle innehatte. Du machtest ihr ihre Stellung streitig.

Dass du, mein Lieber, das nicht bemerkt hast, das war dein Fehler. Du wolltest etwas gewinnen hier, und du sahst nur dich selbst und mich. Ich aber sah ab jetzt nur noch Frau Dr. Hofinger und dich.

Die Lüge war jetzt allgegenwärtig: bei dir ebenso wie bei mir. Und ich hatte eine starke Frau an meiner Seite, die in das Spiel einstieg, um deine Lüge zu entlarven. Meine Unwahrheit interessierte sie nicht länger.

Hast du das wirklich nicht bemerkt?

Ich log. Ich log die ganze Zeit, und Frau Dr. Hofinger half mir dabei.

Der Anfang einer Lüge ist schwer. Der Körper wehrt sich: man schwitzt, wird rot, zittert. Verspricht sich sogar. Widerspricht dem zuvor Gesagten. Kann direkten Blicken schwer standhalten. Überlegt, was man als nächstes sagen soll, versucht Fallstricke zu erkennen. Verrennt sich und erregt Misstrauen. Lügt weiter. Wird langsam sicherer. Die eigene Geschichte ergibt nach und nach Sinn. Und dann geschieht etwas Merkwürdiges: Auf einmal verspürt man Ärger, wenn die anderen einem nicht glauben. Man liefert ihnen hier Detail für Detail, beantwortet jede Frage. Und immer bohren die anderen weiter, wollen es noch einmal wissen, noch genauer, mit weiteren Einzelheiten. Man wehrt sich. Versteht nicht, warum eine Antwort nicht als Antwort stehen gelassen wird. Beginnt sich zu empören. Bezieht sich auf das, was man zuvor – und zwar schon mehrere Male! – erklärt hat. Wiederholt es, fügt ein vergessenes Detail hinzu, das die eigene Aussage noch klarer und einleuchtender macht. Und schließlich glaubt man, was man da sagt. Die Grenze zwischen dem, was war, und dem, was gewesen sein könnte, wird unscharf.

Ab da ist das Lügen plötzlich leicht. Es gibt keine Widersprüche mehr, keine Verlegenheit, keine peinlichen Pausen. Wahr ist, was man fühlt: Gewissheit. Irritation, dass die Fragen kein Ende nehmen. Überdruss, dass man bereits Durchgekautes noch einmal vorgesetzt bekommt. Das ist die Wahrheit, nur das, was hier gerade zwischen uns geschieht. Die Lüge ist zur Wahrheit geworden.

Ich war gut. Und ich konnte alle Fragen der schwarzen Frau beantworten. Wir wurden zu Verbündeten, die gemeinsam arbeiteten, beide auf ein Ziel hin: dich zu schlagen.

Du warst zu aufgeregt. Deine Stimme wurde zu laut, dein Tonfall eine Spur zu anklagend.

Du hättest den Stick sichergestellt. Du hättest Daten darauf identifiziert, Preislisten, die nur mir zugeordnet werden könnten.

Als du das sagtest, da wusste ich, dass du verlieren würdest. Ich begann, dich zu bemitleiden. Weißt du noch, die Wiese mit den Gänsen, die über uns hinwegzogen? Sie flogen in den Süden, es war der Beginn des Herbstes. Jetzt, mein Lieber, ist Winter. Nicht nur für mich, auch für dich!

Frau Dr. Hofinger, zu dir: „Sie sagen aus, dass die Preislisten, die sich auf dem Stick befinden, nur von Frau … erstellt werden konnten. Woher wissen Sie das?“

Du: „Über die Labortische haben Frau … und ich uns oft unterhalten. Sie hat mich sogar um Rat gefragt, weil sie meinte, die alten Labortische seien qualitativ schlecht und exorbitant teuer. Sie suchte nach besseren Alternativen. Ich habe ihr mehrere Quellen genannt, die sie zur Recherche nach preiswerteren Alternativen nutzen konnte. Diese Alternativen tauchen in den Preislisten auf…“

Ich sah, wie Frau Dr. Hofinger spöttisch die Lippen zusammenzog. Als sie dich fragte, ob diese Quellen denn geheim und nicht zugänglich seien, da zucktest du leicht zusammen. Denn natürlich wusstest du, dass dieses Argument lächerlich war. Unsere Lieferanten, auch die kleinen, kannte jeder in unserer Firma.

Aber du wolltest nicht aufgeben. Ungefragt bemerktest du, dir sei bewusst, dass du mich durch deine Aussage schwer belastetest. Aber er würdest von Fakten sprechen, die könntest du nicht ändern.

Ich spürte, dass der Moment gleich kommen würde. Der entscheidende Moment.

Frau Dr. Hofinger zu dir: „Sie erwähnten, Frau… hätte Ihres Wissens ein Motiv, die Daten zu stehlen und zu verkaufen?“

Eine Pause. Ich dachte: In einem Film wäre das der Höhepunkt. In Wirklichkeit aber war es nur verlorene Zeit, in der ich darüber nachdachte, ob du jetzt wirklich weitermachen würdest. Du, der doch immer wusste, wann man aufzuhören hatte. Wann es keinen Sinn mehr machte, Energie zu verschwenden. „Energiesparen ist das große Geheimnis unserer Existenz“, das hattest du immer gesagt. Aber als ich dich ansah, wurde mir bewusst, dass du in einem der vermutlich sehr seltenen Momente feststecktest, in denen die Vernunft für dich keine Rolle mehr spielte. Du konntest deine Erregung kaum noch verbergen, als du dir durch die Haare fuhrst und deine Hand dann, als sei sie ein Hammer, auf den Tisch fallen ließest.

„Ja, Frau … hat große Geldnöte. Ich darf wiederholen, was sie mir selbst gesagt hat…“

Ich wusste, was dann kam. Alle spürten es, nur du nicht. Als du fertig warst, betrachtete Frau Dr. Hofinger dich längere Zeit nur stumm. Du sahst so unbeschreiblich kindisch aus: stolz, aufrecht, fast glücklich. Ich glaube, du hast sogar gelächelt.

Und dann sah ich zum ersten Mal, wie einer Person – dir – der Kiefer hinunterfiel, als Frau Dr. Hofinger dich fragte: „Herr…, mir scheint, Sie wissen mehr über Frau …, als es Ihrem Verhältnis als Kollegen angemessen wäre. Ist es möglich, dass Ihre Beziehung zu Frau … nicht nur professionell war?“

Von da an musste ich gar nicht mehr lügen. Ich habe die ganze Wahrheit gesagt, nichts als die Wahrheit. Fakten sind Fakten – hast du das nicht immer gesagt?!

ER

Du bist weg. Endlich. Endlich ist das alles vorbei, diese Episode meines Lebens, die eigentlich gar nichts mit mir zu tun hatte. Es ist vorbei.

Jetzt bin ich hier, in meinem Büro unserer Göttinger Firma. Das heißt: deine ist es jetzt nicht mehr. Du bist jetzt in dieser unsäglichen Stadt in Thüringen. Wie kann man da nur freiwillig hinziehen! Die Stadt ist langweilig, zumindest nichts Besonderes gibt es da. In Thüringen leben Menschen, die merkwürdige politische Ideen haben, die gerade zu dir überhaupt nicht passen.

Was erhoffst du dir davon?

Du hast jetzt einen „festen Freund“. Mir ist das, ehrlich gesagt, vollkommen gleichgültig. Ich verstehe es nur nicht. Du hast gemeint, er wäre der Mensch, mit dem du dich und dein Umfeld noch einmal neu bestimmen wolltest. Wozu, bitte schön? Wir bleiben doch die Menschen, die wir sind. Ob das so ist, weil unsere Gene uns den Weg weisen – ohne Rücksicht zu nehmen auf das, was wir als unseren „Willen“ bezeichnen -, oder ob es unsere Prägungen und erworbenen Verhaltensweisen oder Einstellungen sind, die uns determinieren, das ist doch letztlich gleichgültig. Es läuft in jedem Fall darauf hinaus, dass unsere vermeintliche „Freiheit“ eine Farce ist. Wie haben keine Wahl. Wir machen alles so, wie wir es tun, weil wir es müssen. Auch wenn wir nichts davon ahnen. Auch die Wahl eines Partners ist eine Folge der unwiderruflichen Konsequenz unseres Charakters, so wie unsere Umwelt aus subjektiven Eindrücken besteht, die lediglich unsere Sicht auf die Welt widerspiegeln.

Das, was wir einen „Neuanfang“ nennen, ist nur der schmerzhaft hoffnungslose Anfangspunkt des ewig Gleichen. Wenn du glaubst, du könntest diesem Schicksal entkommen, dann kann ich nur sagen: Viel Glück!

Dieses unnötige, vor allem aber trügerische Gefühl der Nähe: Ich sagte ja bereits, dass ich das Konzept der Nähe ablehne. Es ist falsch, es ist auch unlogisch. Wir werden allein geboren und sterben auch allein. Ich glaube nicht an Nähe.

Ich sehe das Bild von dir vor mir, wie du zur Tür in dem Blockhaus …

Nein, halt. Das hat doch keinen Sinn. Ich möchte meinem Leben jetzt wieder den Sinn geben, den es immer hatte, bevor das mit uns war. Mir ist ja nichts passiert. Du hast den Prozess gewonnen. Bitte schön, werde glücklich mit deinem neuen Leben.

Unsere Sache ist vorbei.

SIE

Du hast mich verraten. Es ist dir zwar nicht gelungen, mir zu schaden. Aber trotzdem: du hast mich verraten.

Aber ich habe überlebt. Ich bin trotz allem hier in dem herrlichen Wald, im Thüringer Wald, zusammen mit einem Mann, der fest zu mir steht.

Weißt du was? Du hast das Bilderbuch von mir bekommen, und ich habe dir gesagt, du könntest damit machen, was du wolltest. Ich habe gesehen, was du gemacht hast: Du hast alle Bilder mit dicken schwarzen Strichen übermalt. Die Szenen sind nicht mehr zu erkennen. Das war schlimmer als mein Diebstahl. Es war ein Tötungsdelikt, nicht an mir, sondern an dir selbst. Du hast etwas Kostbares, das dir gehörte, zerstört. Deshalb tust du mir leid. Aber auch du wirst überleben.

Fast wäre es etwas geworden mit uns. Aber eben nur fast. Lebe wohl, Freund.

E N D E


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