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Große Worte?

Mittwoch, 16. Oktober 2019

Wenn Sie wieder einmal überlegen, wie Sie es erfolgreich vermeiden können, etwas einfach und verständlich zu sagen


Kennen Sie das?

"In meinem Projekt geht es um ein hochinteressantes Thema, das uns alle bewegt. Doch bevor ich damit beginne, lassen Sie mich einige Worte sagen zu mir, zu dem Hintergrund der heutigen Präsentation, zu der Entstehung meiner Projektidee und der Entwicklung, die damit zusammenhängt …"

Und schon ist das Publikum (ob lesend oder zuhörend) verloren.

Etwas in wenigen Sätzen überzeugend auf den Punkt bringen: das ist, da werden Sie sicher zustimmen, eine Kunst. Aber diese Kunst ist erlernbar!

Dazu eine kurze Geschichte:

Mein Vater war beruflich im Vertrieb von Spezialwerkzeugen aus den USA unterwegs. Für den Artikelkatalog war eine Übersetzung der amerikanischen Originalbezeichnungen ins Deutsche notwendig. Das war gar nicht so einfach bei all den „grips“ und „pliers“ mit technischen Wortergänzungen. Bei einem Produkt handelte es sich um eine Applikationshilfe für Motoröl, in Form einer besonders geformten Flasche mit Schnabel.

Das ganze Unternehmensteam versuchte sich an griffigen Formulierungen: wie „tropffreie Flaschenvorrichtung“, oder „Motoröl aus der Schnabelflasche, ohne Tropfeffekt“. So richtig katalogtauglich waren all diese langen Beschreibungen nicht.

Was stand schließlich dann im Katalog unter dem Abbild der Schnabelflasche? „Die Flasche, die nicht tropft.“ Knapp, klar, eindeutig. Diese „Übersetzung“ stammte übrigens von einem Freund, der einfach nur verstehen wollte, was das Besondere an dem Produkt war.

Merken Sie, was hier passiert ist? Der Freund hat die Flasche nicht einfach beschrieben. Er hat den Zweck der Flasche mit dem Schnabel erkannt. Und diesen Zweck hat er dann mit nur einem Wort erklärt. Dazu noch mit einem Wort aus meiner persönlichen Lieblingsgruppe der Wortarten: einem Verb.

Mich hat diese Geschichte als Kind tief beeindruckt. Ich habe daraus gelernt:

  1. Das Offensichtliche zu beschreiben, das ist langweilig. Also geht es um das Eigentliche, das nicht sofort zu sehen ist.
  2. Das Eigentliche kompliziert zu beschreiben, das ist leider auch langweilig und zudem oft unverständlich. Also geht es darum, das Wesentliche einfach und klar in Worte zu fassen.
  3. Dabei überzeugen Verben mehr als Nomen. Besonders wichtig ist das im Deutschen – der Sprache der Nominalisierung! (Oder besser: der Sprache, die gern nominalisiert.)
  4. Gute Beschreibungen passen unter ein kleines Bild auf einer Katalogseite. Dies lässt sich ohne Weiteres übertragen auf: Bildunterschriften unter Instragram-Fotos, kurze Statements auf Facebook, einleitende Abschnitte von Essays, E-Mails, die ersten 2 cm in Redeskripten …

Die "Flasche, die nicht tropft": Vielleicht denken Sie beim nächsten Mal daran, wenn Sie merken, dass Sie gerade den vierten, fünften oder sechsten Satz drechseln, ohne dass auch nur ein Hauch von echtem Inhalt sich in Ihre Worte eingeschlichen hätte? Ihr Publikum könnte Ihnen dankbar sein.

Ich finde, es lohnt sich.


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