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Und ewig währt die Veränderung...

Montag, 18. Juni 2018

In Georgien wird deutlich, wie "Veränderung" geschieht. Oder manchmal auch nicht. Je nachdem, wo und wie man das Land und die Menschen, die dort leben, beobachtet.


Das Land im Westen: Imeretien

Wussten Sie das? Es gibt Georgien mindestens dreifach, eigentlich sogar noch viel häufiger. Da ist einmal der US-Bundesstaat Georgia. Ein Leser, der nach „Politik in Georgien“ googelt und dann versehentlich „Politik in Georgia“ anklickt, wird stutzen angesichts der Aussage: „Nachwahlen in Georgia: Eine bittere Lehre im Kampf gegen Trump“. Aber keine Sorge! So präsent ist der US-amerikanische Präsident in dem kleinen Kaukasus-Staat nicht. (Was allerdings nicht bedeuten soll, dass die Politik hier unabhängig von Großmächten wäre. Aber wo ist sie das schon??) Zum zweiten gibt es natürlich die großen Pinguinkolonien. Um diese merkwürdigen Tierchen zu sehen, sollte man nach Südgeorgien reisen, auf die Insel in der Antarktis. Ja, und dann gibt es noch die Republik Georgien, zwischen 1921 und 1991 Teil der Sowjetunion, seit 1991 wieder unabhängig.

Das Georgien im Kaukasus, mit dem Schwarzen Meer und den hohen Bergen, ist ein Land voller Sagen, Märchen und Geschichten. Hier siebten die Argonauten mit dem goldenen Vlies eines fliegenden Widders Gold aus den Wassern der Flüsse. Hier verließ Jason die stolze Medea, und hier im Kaukasus musste auch Prometheus täglich seine Leber den wilden Adlern zum Fraß darbieten, als Folge seines Versuchs, die Sonne zu erreichen. Dies könnte man schon gleich symbolisch für das unablässige und oft vergebliche Streben des Landes nach Freiheit begreifen. Aber das ist zu billig, nicht wahr? Außerdem ist da ja noch Stalin, der große Diktator, der auch Georgier war.

Der Kaukasus ist ein Gebiet mit einem wilden Nebeneinander von vollkommen unterschiedlichen Sprachen auf engem (bergigem) Raum. Und Georgien ist ein „Land der Länder“: ein kleines Gebiet mit unglaublich vielen Gesichtern. Ein solches Land im Lande findet man in den westlichen Provinzen vor: in Imeretien und Megrelien, im alten Kolchis.

Dieses Land trägt Spuren aus vergangenen Epochen. An vielen Häusern entdeckt man dekorative Holzschnitzereien, meist in Form von miteinander verbundenen Bögen und Spitzen, die sich rund um die Dächer ziehen. Ein Hauch von Dekadenz liegt über diesen alten Gebäuden: Das Holz blättert ab, die Farben sind verblichen. Die Veranden, die das obere Stockwerk schmücken, sind häufig mit Wein bewachsen. Meist führt eine schwungvolle Treppe vom Garten hinauf. Früher waren die Häuser einstöckig. Viele Besitzer haben dann ein Erdgeschoss mit Wänden aus Beton oder Stein gebaut und das eigentliche Wohnhaus einfach angehoben und als erste Etage daraufgesetzt. Die unteren Räume dienten der Vorratshaltung, als Küche oder auch als Stall. Eine gute Lösung, und in den großen Gärten mit üppiger Vegetation – dank des fast subtropischen Klimas ist es hier in Westgeorgien sehr grün – wirken die Häuser großzügig und schön. Die Zeiten der reichen Land- und Villenbesitzer ist vorbei. Was bleibt, ist dennoch eine Ahnung von Stolz, von Größe, von Eleganz.

Unter diese verblühten Schönheiten mischen sich Fundamente für neue Häuser, moderne Gebäude aus Stein, Glas, Beton. Überhaupt findet man in den Innenstädten, zum Beispiel auch in der alten Eisenbahnstadt Samtredia, viel Glas. Der frühere Präsident des Landes, Mikhail Saakashvili, ließ alle offiziellen Ämter, vor allem die der Polizei, aus Glas neu errichten: als Zeichen für eine (bis dahin unbekannte) Transparenz der öffentlichen Hand.

Es ist dieser Gegensatz von alt und neu, von verfallendem Charme und selbstbewusstem Aufbruch, der das Land so interessant macht. Man trifft überall noch auf Überreste der sowjetischen Periode: ehemalige Kulturhäuser, die jetzt anderen Zwecken dienen (aber: wenn man einmal weiß, wie diese Kulturhäuser aussahen, wird man sie immer wiedererkennen, wahrscheinlich in allen Ländern der ehemaligen Sowjetunion und ihrer befreundeten Staaten - von Samarkand bis zu Halle an der Saale). Säulengeschmückte Eingänge zu Parkanlagen, in denen sich früher Mitglieder der arbeitenden Klasse in ihrer Freizeit ergehen konnten. Jetzt stehen die pathetischen Säulen isoliert in der Landschaft, ohne Bezug, dahinter verwildertes Grün oder einfach nur Haufen von Steinen. Diese Relikte sind Geister aus einem untergegangenen Reich. Wer noch gern Hammer und Sichel fotografieren möchte, der wird hier fündig.

Fahren Sie einmal durch die kleineren Städte und Dörfer Imeretiens. Da entdecken Sie so viel, dass Sie sich anschließend wahrscheinlich für Geschichts- und Soziologiekurse einschreiben werden. Auf den Straßen spazieren Kühe und Schweine, Autos weichen ihnen hupend aus. Frauen in schwarzen Kleidern laufen am Straßenrand entlang und wirken wie Figuren aus einem Roman von Pasternak. Über der Schulter tragen sie Hacken und andere Gartengeräte. Vielleicht haben sie ein Stück Land bearbeitet und verkaufen die Früchte ihrer Arbeit später auf dem Markt. Männer stehen oder sitzen in Gruppen herum: um große Bäume, vor ihren Häusern, am Straßenrand, neben irgendwelchen Steinhaufen. Es ist erstaunlich, wie Männer fast jeden Alters über eine so lange Zeit auf dem Boden hocken können – wie machen das nur ihre Knie mit? Die kräftige Frau, die in einem Hof steht, hat eine Hand in die Hüfte gestemmt. Sie spricht mit einem Mann, der sein T-Shirt bis über den Bauch hochgeschoben hat – eine typische Geste georgischer Männer auf dem Land – und sich mit dem Ellenbogen auf sein Auto stemmt. Ihr Gespräch mag sich um die unpassende Verlobung ihrer Nichte drehen, ebenso gut kann der nachlässige Umgang der Nachbarn mit den eigenen Kühen kritisiert werden ("Wie lange die abends immer vor dem Tor stehen und brüllen, bis sich da endlich mal einer bequemt, sie einzulassen und zu melken!"), oder aber die Fähigkeiten und Interessen des neuen Regierungsmitglieds. Letzteres ist sogar wahrscheinlich, denn Politik ist hier allgegenwärtig. Das neue große Schlagwort der "Bürgerbeteiligung", der Forschung mit und durch ganz normale Menschen, auch "Citizen Science" genannt, wurde möglicherweise hier geprägt. Von der alten, herrischen Großmutter bis zum Enkel, der gerade studiert, sprechen alle über Politik, Das ist doch die Politik der Straße! Aber halt, bitte werden Sie nicht zu euphorisch. Die meisten Menschen glauben alles, was die regierungskonformen Fernsehkanäle berichten. "Politische Jünger im Gespräch miteinander" könnte also auch die Bezeichnung eines Bildes sein, auf dem die Frauen in schwarzen Kleidern zu sehen sind, mit dem Mann vor seinem Auto und dem Fahrradfahrer, der angehalten hat und, einen Fuß noch uf dem Pedal, mitdiskutiert.

An der nächsten Ecke beobachten Sie einen orthodoxen Priester, der eilenden Schrittes die Straße überquert. Er wird von einer sehr jungen, sehr modern wirkenden Frau angehalten. Nach einem kurzen Wortwechsel segnet er sie. Eine ganz gewöhnliche Szene in diesem Land.

Daneben wieder einmal glückliche Tiere – Kühe, Ziegen oder Schweine -, die zwar mager, aber auch frei sind, bis sie abends zu ihren Melk- oder Futter-Besitzern zurückkehren (falls diese zu Hause sind. Diese Verantwortungslosigkeit heute...). Schattige Plätze unter Bäumen und Büschen vor den Häusern oder auch neben Autos am Straßenrand sind in der Mittagshitze begehrt, und auch dekorative Pflanzen auf den Grundstücken schmecken gut.

Das Nebeneinander von Altem und Neuem wird auch sichtbar, wenn man einkauft. Auf dem Basari, dem Marktplatz in Samtredia, sieht es im Jahr 2017 noch genauso aus wie im Jahr 1997: lange Reihen von Buden, Wand an Wand, unter einer Überdachung. Von Kosmetik- und Drogerieprodukten aus Deutschland, Frankreich, Russland und der Türkei über Kleider aller Stilrichtungen bis zu Gummischläuchen, Dichtungen für Waschbecken und Farben für den neuen Hausanstrich ist wirklich alles zu bekommen. Frische Verbrauchsprodukte – Obst, Gemüse, Brot, Käse, Eier, Fisch und Fleisch – werden in großen, hell erleuchteten Hallen verkauft, die ungemütlich und kalt wirken: frühere sowjetische Kolchosen-Basare. Es riecht dort stark nach den verderblichen Waren, aber auch hier gibt es alles. Um den Basar herum werden Sie mindestens fünf ultramoderne, vor Sauberkeit, nein, vor Sterilität blitzende Apotheken passieren. Die „Aptiaki“ sind wahrscheinlich, neben wissenschaftlichen Laboren, die einzigen vollkommen keimfreien Orte auf unserem Planeten.

Und machen Sie sich keine Sorgen, dass Sie einmal Probleme haben könnten, ins Internet zu gelangen! In Georgien gibt es überall Netzverbindung. Auch in Samtredia werden Ihnen Frauen mit langen, rotlackierten Fingernägeln in fünf Sekunden eine entsprechende preisgünstige SIM-Card in Ihr Smartphone gesteckt haben. Danach können Sie sicher sein, überall Ihre eindrucksvollen Fotos über What´s App verschicken zu können: Von dem hochgelegenen Bergkloster ebenso wie von dem Hinterhof Ihrer landestypischen Unterkunft bei einer georgischen Familie, die Sie fotografieren, während die Frauen das köstliche Essen servieren und die Männer des Hauses für Sie singen und dazu Akkordeon spielen. (Das wird wirklich alles so geschehen, glauben Sie es nur. Und es ist nicht nachgestellt für Touristen. Sie als Tourist sind gar nicht so wichtig. Ihre Hauptrolle ist die des Bewunderers georgischer Gastfreundlichkeit, die es auch so gäbe, wenn Sie gar nicht da wären. Sie sind, mit anderen Worten, lediglich der Anlass und nicht die Ursache.)

Wenn Sie alles Notwendige eingekauft haben (mit Händen und Füßen, es sei denn, Sie beherrschen die schwierige georgische Sprache oder alternativ Russisch), dann fahren Sie einfach los, aus Samtredia, Martwili oder einer der anderen kleinen Städte hinaus. Wenn Sie sich gen Westen bewegen, sind Sie nach spätestens zwei Stunden am Schwarzen Meer. Fahren Sie Richtung Süden, dann erreichen Sie schon nach einer Stunde den Fuß des kleinen Kaukasus. Nur Mut, fahren Sie weiter! Eine weitere Stunde später sind Sie in einer fremden, wilden, eigenartigen Bergwelt angekommen. Aber das ist schon wieder eine ganz andere Geschichte.


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