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Unter der Bagatellgrenze

Freitag, 29. September 2017

Gedanken und Beobachtungen aus Georgien - einem "Land im Wandel" im Jahr 2017


In Förderprogrammen für Wissenschaft oder Wirtschaft gibt es den Ausdruck „De-minimis“, erklärend heißt es dann in den einschlägigen Passagen „unterhalb der Bagatellgrenze“. Damit ist gemeint: die öffentlichen Beihilfen sind so gering, dass sie nicht wettbewerbsverzerrend wirken (und daher gegen kein Gesetz verstoßen – daher die Phrase: „De minimis non curat lex“!).

Ähnlich verhält es sich auch mit manchen Begebenheiten, Beobachtungen, Erkenntnissen, die auf Reisen entstehen: diese Vorkommnisse sind vielleicht nicht entscheidend, häufig belanglos. Interessant sind sie trotzdem.

Unter die Erkenntnis-Bagatellgrenze fällt zum Beispiel die Art der Georgier, auf kleine Fragen unkompliziert einzugehen. Ich nenne das den „Du fragen – ich antworten“ – Stil. Man könnte auch von einer „geringen Kontextdichte“ sprechen. Es geht, wie vor langer Zeit bei Tarzan und Jane, nicht um deutungsbeladene Kommunikation. Tarzan wollte nicht wissen, ob Jane adlig, reich oder Anführerin einer Armee sei. Es ging um die Namen. Punkt.

In Deutschland werden Fragen nach dem richtigen Weg, dem richtigen Zug, einer Adresse häufig herablassend („Wieso weiß sie oder er das denn nicht?“), missbilligend („Warum will die oder der das denn wissen?“), oder geschwätzig („Ich hole dann mal etwas aus“) beantwortet. Selbstverständlich nicht immer, vor Verallgemeinerungen möchte ich mich hüten. Das Gefühl aber, dass man als fragender Mensch, der nicht Bescheid weiß, etwas minderbemittelt ist, auch mitunter peinlich unkundig oder aber potentiell unruhestiftend – dieses Gefühl kenne wohl nicht nur ich. Deshalb fragen so viele Menschen in Deutschland auch nicht besonders gern, sondern geben lieber vor, alles oder vieles zu wissen. In einem hübschen kleinen Ort im Schwarzwald, in dem ein Mundharmonikafestival stattfand – übrigens war dieses Musikereignis virtuos, vielseitig und fast etwas freakig! – ist es uns jedenfalls einmal passiert, dass wir für unser Fragen gelobt wurden: Trotz vorhandener Beschilderung konnten wir einfach den Eingang nicht finden. Einer von uns – zufällig ein Georgier! – wollte nicht länger im Dunkeln umherirren und fragte einen vorbeieilenden Menschen, der uns nicht nur sicher zum Konzert führte, sondern auch sofort bemerkte, wie angenehm ihm Leute seien, die vor solchen Fragen nicht zurückschreckten! Ich fühlte mich ertappt, denn ich wäre allein wahrscheinlich noch etwas länger stumm und orientierungslos geblieben. Dann wäre mir nicht nur der rechtzeitige Konzertbeginn, sondern auch die Gesellschaft dieses Herrn entgangen, der uns mit an seinen Tisch nahm und viele Insidergeschichten erzählte – er war nämlich selbst Virtuose und Teilnehmer des Festivals!

Georgier sind also eher bereit zu fragen. Und auch zu antworten. Ich habe häufig beobachtet, wie Menschen um eine Auskunft nach dem Weg ersuchten und sofort selbstverständlich ausgesprochene, offenbar wertungsfreie und auch hilfreiche Hinweise erhalten haben. Manchmal mischten sich andere Umherstehende oder -sitzende ein und verbesserten die Ratschläge noch. Auch zu Einkaufsmöglichkeiten wurden wir häufig von gänzlich Fremden gut beraten. In Kutaissi waren wir auf der Suche nach einem Heilmittel gegen Magenbeschwerden, die bei mir plötzlich nach einem Essen aufgetreten waren. Das war keineswegs auf meiner ersten Reise nach Georgien. (Wer das erste Mal in Georgien ist, wird fast immer krank, das scheint dazuzugehören. Wahrscheinlich ist es die Mischung von ungewohntem Essen und subtropischer Wärme, dazu kommt häufig der gute, fruchtige Wein, den man sehr leicht unterschätzt, und natürlich die großen geselligen Runden, in denen man sich sehr wohlfühlt und die eine Teilnahme an zahlreichen Trinksprüchen erfordern…) Nein, es war bereits meine vierte oder fünfte Reise nach Georgien. Ich wusste inzwischen, was mir gut bekommt, war vorsichtig mit Wein, eingelegtem Fisch und zu viel Käse. Trotzdem fühlte ich mich unbehaglich, als wir das Restaurant verließen. Teilweise war ich vielleicht auch verärgert. Das Restaurant, eine Lokalität auf dem Land, fern jeder Stadt oder Siedlung, war modern und lockte mit einem großen Garten und schattigen Bäumen. Außer uns war niemand dort. Kaum saßen wir, drehte die Bedienung die Musik auf ein mittleres Disconiveau hinauf. Das war natürlich als Aufmerksamkeit gedacht, aber uns störte es. Wir äußerten den Wunsch, auf die Musik gern ganz zu verzichten oder sie zumindest nur im Hintergrund zu vernehmen. Aber so etwas ist in Georgien immer schwierig. Kunden - wie auch private Gäste – müssen von allem begeistert sein. Als Ausländer sollte man dazu noch anmerken, wie willkommen man sich in diesem wunderschönen Land fühlt. Falls man unzufrieden ist, dann bitte über Dinge, die nachvollziehbar sind! Zu hohe Preise etwa, oder wirklich schlechtes Essen. Wenn man sich beschwert, muss der Tonfall hörbar empört sein. Zwischen freudiger Anerkennung und scharfer Ablehnung gibt es nichts. Höfliche Bitten um kleine Änderungen der Gastgebersitten kommen gar nicht gut an. Musik ist schließlich etwas Schönes, jeder freut sich darüber.

Also wurde die Musik nicht leiser gestellt. Um keinen Deut. Stattdessen wurde uns das Essen so degoutiert auf den Platz gestellt, dass ich vermutete, es sei möglicherweise auch noch vergiftet. All dies mochte zu meinem Unwohlsein beigetragen haben. Jedenfalls waren wir jetzt in Kutaissi und suchten eine Apotheke. Auf unsere Frage, wo denn wohl eine zu finden sei (es war erst das Jahr 2014, die Apotheken waren noch nicht so zahlreich, auffallend weiß und rein wie im Jahr 2017), erhielten wir nicht nur gleich drei präzise beschriebene Alternativen, sondern noch dazu die Empfehlung, gegen Magendrücken Borjomi-Mineralwasser zu trinken. Wo wir das kaufen konnten, wurde gleich erklärt.

Jetzt könnte man aus dieser Lässigkeit und selbstverständlichen Freundlichkeit der Georgier im Allgemeinen, auf Fragen zu antworten, schließen: Die Menschen in diesem Land sind unkompliziert und offen. Das stimmt auch. Man kann mit Georgiern meiner Erfahrung nach über Alltagsschwierigkeiten, Örtlichkeiten, über das Essen, über Musik und viele andere Themen locker und interessant plaudern. (Probleme tauchen erst dann auf, wenn man als Gast Wünsche äußert, die sich auf Aktivitäten außerhalb des Hauses der Gastgeber beziehen.)

Man könnte auch schlussfolgern: Fragen nach dem Weg oder dem richtigen Ort für Einkäufe fallen auf vertrautes Terrain, denn auch Georgier suchen häufig eine Adresse, eine Richtung oder ein Produkt. Gelbe Seiten gibt es nicht, und Stadtpläne sind auch rar oder, wenn vorhanden, unpräzise. Also liegt auch hier ein Stückchen Wahrheit.

Es gibt noch eine etwas tiefer gehende Erklärung. In Georgien ist nach wie vor die Gemeinschaft wichtig. Traditionell – und noch heute – spielt die Familie eine große Rolle. Auch Freundschaften sind von einer Ernsthaftigkeit, die mich immer wieder erstaunt. Im Gebirge – und natürlich ist Georgien ein Bergland – war man zudem schon aufgrund der Naturgefahren (und der Wegelagerer) aufeinander angewiesen, deshalb auch hilfsbereit und gastfreundlich. In Zeiten des Sozialismus war Solidarität der Gemeinschaft sowohl Inhalt und Mandat der staatlichen Propaganda, als auch wichtige Grundlage für das Leben in der Sowjetrepublik. Deshalb gehören vielleicht gegenseitige Ratschläge und gemeinsame Lösungsansätze zum eingeübten Repertoire. Niemand weiß alles, gemeinsam findet man einen Weg. An dem Unwissen des einen findet der andere nichts Lachhaftes. Vieles nicht zu wissen wird selbstverständlich vorausgesetzt, und das Zurechtkommen im Alltag erfordert gemeinsame Anstrengung. Und genau das ist in Deutschland anders. Hier folgen wir seit langem der Maxime der Unabhängigkeit der Individuen. Ich bin, was ich kann. Der Stärkste ist am mächtigsten allein. Deshalb ist es peinlich, etwas nicht zu wissen, etwas zu fragen. Und derjenige, der gefragt wird und die Antwort kennt, der ist ganz klar im Vorteil.

Die offene Frage- und Antwortkultur ist eine kleine Beobachtung am Rande, unter der Bagatellgrenze. Vielleicht ist sie gerade deshalb für das Verständnis von kulturellen Unterschieden interessant. Sagte nicht schon dieser Jazzmusiker: „Ein kleiner Tonwechsel für mich, ein großer Sprung für mein Publikum…“?!


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