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Es war einmal in Romania...

Mittwoch, 7. Februar 2018

Es geschah einst im Fagaras-Gebirge... Eine Geschichte über Menschen in Rumänien. Ohne Fürst Dracula, dafür mit einer Braut, die zu allem bereit ist...


Michaela hat lange auf diesen Tag gewartet, oder genauer gesagt: auf diese Tage. Eine Hochzeit in Rumänien ist nicht an einem Nachmittag zu erledigen, jedenfalls nicht für eine Frau wie Michaela. Es ist zu windig heute, ihre langen, hellen Haare fliegen in alle Richtungen. Die Kostümspezialisten aus dem Team der Wedding-Planer schwirren um Michaela herum und versuchen verzweifelt, mit Klammern, Spray und Gummis die Frisur zu zähmen. Aber gegen den kräftigen Bergwind hier kommen sie nicht an. Michaela erhascht ihr Spiegelbild in einem der großen Fenster, die das Bergrestaurant von der Terrasse, auf der sie steht, trennen. Sie sieht furchtbar aus! Wie eine zerzauste, grimmige Hexe in einem unpassend romantischen, weißen Kleid.

Nicht zum ersten Mal fragt sich Michaela, wie sie auf die Idee gekommen ist, hier, an diesem trotz allem ungezähmten Ort, ihre Hochzeitsfotos machen zu lassen. Wie viel bequemer hätte sie es unten in Sibiu gehabt, in einer der hübschen Straßen, vor einem alten Gemäuer! Oder in einem windgeschützten Hof, der mit Rosen geschmückt worden wäre. Aber sie hatte sich dieses Hotel am Lac Balea ausgesucht, mitten in den Fagaras-Bergen. Natürlich war das kein geheimer Ort, im Gegenteil: Auf der berüchtigten Transfagarasan-Bergstraße, die sich in weiten Serpentinen vom Tal bis auf über 2.000 Meter in die Karpaten hinaufwindet, sieht man im Sommer viele Jeeps unerschrocken an steilen Abgründen entlangkurven. Busse zeichnen durch ihre präzise Fahrt den gekrümmten Schlangenleib der Straße nach, während Passagiere mit Kameras an den Fenstern hängen. Michaela kennt diesen Ort seit ihrer frühen Kindheit, denn ihr Vater war Bergsteiger und hat sie und ihre Brüder häufig hierhin mitgenommen. Natürlich war es damals einsamer. Aber das Merkwürdige an diesem Ort ist die Tatsache, dass hier, inmitten der Berge, immer noch etwas unbestimmbar Wildes haust: trotz des neuen Hotels, der guten Straße, den vielen Menschen, die hierhin gelockt werden. Und heute hat sich alles, was wild ist, zu diesem unbeherrschbaren Wind zusammengerottet und hindert Michaela daran, für das wichtigste Foto ihres Lebens gut auszusehen.

Michaela seufzt. Wieder versuchen die Hochzeitsplaner, ihr Haar zu bändigen. Aber inzwischen ist ihr kalt, es ist zwar noch Spätsommer, aber nicht mehr richtig warm. Vor allem dann nicht, wenn man schon seit langem im ärmellosen Brautkleid auf einer zugigen Terrasse im Wind steht. Scheinbar hat ihre Nase sich gerötet, denn jetzt rückt der Chef der Maske mit Puder an. Er sieht gestresst aus, auch seine schöne Frisur – eine an Elvis erinnernde, sorgfältig gelackte Tolle – hat sich unvorteilhaft verändert. Er ruft etwas nach hinten, und dann stolpert er plötzlich über einen Rucksack, den eine Touristin ungeschickt neben ihren Tisch gestellt hat. Er stürzt, und der Puder fliegt ihm in hohem Bogen aus der Hand, segelt akkurat und fast elegant über die gesamte Länge der Terrasse, schlägt an der Brüstung nicht weit von der Stelle, an der Michaela steht, auf, und öffnet sich einladend. Heller Puder entspringt der schmalen, flachen Dose und stäubt in einer Wolke empor, verteilt sich auf Wände und auf in der Nähe sitzende Gäste. Es sieht aus wie in einem surrealen Film, in dem eine Alltagsszene auf einmal von einem Goldregen in ein Märchen verwandelt wird.

Michaela überlegt kurz, ob sie lachen oder sich ärgern soll. Doch dann kichert sie bereits. Ein Herr, der ihr schon vorher aufgefallen ist, weil er im Sitzen so unglaublich groß wirkt, springt auf, niest, schüttelt Puder von seinem Hut. Michaela sieht, dass er tatsächlich riesig ist, sicher an die zwei Meter groß. Sie lacht ihm zu, ehrlich erheitert und plötzlich unglaublich entspannt. Glücklicherweise lächelt er zurück und ruft: „Puder zu verschütten bringt Glück!“ „Wirklich?“ Michaela kennt diesen Spruch noch nicht. Aber warum sollte sie widersprechen, wenn es um Glück geht? Glück kann sie gebrauchen, sehr sogar. Glück ist eine absolut unentbehrliche Zugabe zu einer Hochzeit mit so vielen Haken, wie es Michaelas ist. Erster Haken: Der Wind bringt ihre sorgsame Foto-Frisur durcheinander. Zweiter Haken: Es haben nur so wenige Gäste zugesagt, dass es sich nicht wie eine richtige rumänische Hochzeit anfühlen wird. Dritter Haken: Es sind verdammt noch mal viel zu viele Touristen hier an ihrem Ort. Vierter Haken: Sie liebt ihren Bräutigam nicht, sie mag ihn nicht einmal.

Sechs Minuten später

Schon wieder ist Zeit vergangen. Vor sechs Minuten hat der Wind noch Michaelas Haar verweht, und der Puder, der ihre Nase mattieren sollte, ist auf einem gigantischen Bergsteiger gelandet. Jetzt aber, nach etlichen Minuten, ist alles ganz anders. Michaela ist für das Foto gerichtet, sie hat dreimal in Ermangelung einer anderen Gelegenheit auf das Holz des Tisches geklopft, an dem die Touristin mit dem ungeschickt den Weg verstellenden Rucksack sitzt. Sie hat das Glück beschworen. Jetzt kann der Fotograf loslegen. Michaela ist bereit. Bereit zu allem, einschließlich der Hochzeit mit einem Mann, der als ihr- zugegeben junger - Onkel durchgehen würde, wenn er des Rumänischen mächtig wäre. Das ist er allerdings nicht, deshalb wird er wohl – und das ist tatsächlich etwas Gutes – niemals für ihren Onkel gehalten werden. Der Mann, den Michaela heiraten wird, spricht Österreichisch.

Der Fotograf, der übrigens weder schwul, noch Italiener ist, sondern ein etwas übergewichtiger, mittelalter Rumäne namens Bela aus Sibiu, ruft: „Bitte den Kopf leicht zur Seite wenden!“ Michaela dreht sich automatisch zur Bergseite, schaut auf den Balea-See, der grün durch das Geländer der Restaurantterrasse schimmert. „Nein, nein, die Sonne muss von hinten auf deinen Kopf treffen. Andere Seite!“, ruft Bela. Michaela seufzt, bringt ihr Gesicht aber gehorsam in Position. „Etwas höher!“ kommandiert Bela. „Die Hand bitte hoch, vielleicht die Haare zurückstreichen?“ Michaela fährt mit den Fingern durch ihr Haar, das in der plötzlichen Windstille geordnet daliegt. Sie führt auch alles Weitere aus: sie hebt das Kinn, lacht, blickt ernst, stemmt die Hände in die Hüften, lässt ihre Lippen nachfärben, neigt den Kopf schelmisch leicht nach oben. Dann schließt jemand die großen Glastüren, die bisher offenstanden, und auf einmal sieht sich Michaela wieder. Ihr Spiegelbild wirkt größer, als sie wirklich ist. Sie ist beinahe schlank – ein Resultat der Diät, die sie sich in den letzten Wochen auferlegt hat. Ihr Haar ist von Natur aus hellblond, ihre Augen, die sie in der Glastür nur erahnen kann, sind dagegen balkanmäßig dunkel. Michaela ist 38 Jahre alt, und so sieht sie auch aus, selbst geschminkt. Ungeschminkt allerdings auch, das macht bei ihr kaum einen Unterschied. Ist sie schön? Nein, ihre Nase ist etwas zu groß, um strengen Idealen zu entsprechen, ihr Blick ist ein wenig zu müde, um sie bezaubernd wirken zu lassen. Aber sie sieht auch nicht schlecht aus.

Genau das hat Andreas, ihr zukünftiger Mann, zu ihr gesagt, als er sie das erste Mal ansprach: „Sie sehen nicht schlecht aus. Mögen Sie mit mir tanzen?“ Es war auf einem Fest in Bran, der Stadt mit dem unsäglichen Dracula-Schloss. Der Ort in ganz Rumänien, der von den meisten Touristen heimgesucht wird. Michaela war dort als fremdsprachige Gruppenleiterin. Das Fest im Hof, das für die Gruppe aus Österreich standfand, hatte sie selbst mit organisiert. Als Andreas sie zum Tanzen aufforderte, war es bereits dunkel. Der Hof war mit Glühlampenketten geschmückt und beleuchtet. In der Mitte war eine Bar aufgebaut, die wie immer begeistert genutzt wurde. Michaela rauchte gerade, an die Theke gelehnt, eine Zigarette. Das war eigentlich nicht erlaubt, aber die Leute, die in der Bar bedienten, waren ihre Freunde. Außerdem war der Tag gut gelaufen, die Veranstalter würden zufrieden sein. Michaela sah den großgewachsenen, schlanken Mann auf sich zukommen und überlegte kurz, ob sie die Zigarette schnell noch ausdrücken sollte. Aber da stand er schon vor ihr, nicht mehr ganz nüchtern, und sprach mit der Art von entschlossenem Mut, die schüchterne Menschen auszeichnet, seinen merkwürdigen Satz.

„Sie sehen nicht schlecht aus?" Michaela hatte diese Formulierung wiederholt, fragend, wie um sicher zu gehen, dass sie sich nicht verhört hatte. Sie war in diesem Moment tatsächlich der Meinung, nicht richtig verstanden zu haben. An der Reaktion ihres Gegenübers erkannte sie jedoch sofort, dass dem nicht so war. Er hatte es wirklich gesagt. Die angetrunkene Selbstsicherheit im Gesicht des Mannes verwandelte sich in komischer Deutlichkeit in Bestürzung und Scham. Sein Mund öffnete und schloss sich, als ringe er um klärende Worte, in seinen Augen las sie Erschrecken. Als sie auch noch eine Schweißperle über seiner rechten Braue entdeckte, hatte sie Mitleid und verspürte zugleich einen unbändigen Drang zu lachen. Das tat sie dann auch, sehr ehrlich und spontan. Etwas Besseres hätte sie nicht machen können, um die Peinlichkeit des Moments wegzuwischen. Der ängstliche Ausdruck in den Augen des Österreichers verschwand, Lachfältchen zeigten sich an den Augenwinkeln. Der empfindsame Mund hörte auf mit den stummen Bewegungen, die an einen Fisch erinnerten. Die Haut sah auf einmal gut durchblutet aus. Der Mann lachte. „Ich heiße Andreas“, rief er erleichtert, „und ich wollte sagen, dass ich gern mit Ihnen tanzen würde.“ Der Abend wurde dann noch sehr nett. Andreas bewunderte Michaela ganz offensichtlich. Sie ahnte natürlich damals schon, dass das vor allem mit ihrer Eigenschaft als Rumänin zusammenhing, einer interessanten Fremden vom Balkan, mit der man sich auf Deutsch unterhalten konnte. Reiseführer und Übersetzer vereinen in ihrem Beruf verschiedene Rollen: Sie sind Einheimische, Experten und Expertinnen ihres Landes. Sie wissen Bescheid, kennen sich aus und sind kompetent – in jeder Hinsicht: sie sprechen die Landessprache, repräsentieren ihre Kultur und wissen zu Geschichte, Gesellschaft und Politik überdurchschnittlich viel zu sagen. Gleichzeitig sind sie aber auch der Sprache ihrer Gäste kundig. Sie kennen zumindest einige typische Bedürfnissen und Eigenheiten der Menschen, die sie betreuen und auf ihrer Reise begleiten. Sie strecken Hände aus, die Abgründe überbrücken und wirken deshalb schnell seltsam vertraut. Zu ihren Aufgaben gehört in erster Linie das Vermitteln, das Verstehen und das Mitwirken daran, dass die Gäste sich wohlfühlen. Deshalb sind sie, sofern sie gut sind, auch meist sympathisch – denn was ist Sympathie anderes als der Eindruck angenehmer Übereinstimmung?!

Michaela spürte an diesem Abend, wie Andreas dem Zauber dieser empfundenen Übereinstimmung mit einer Frau aus einem ihm unbekannten Land verfiel. Sie beobachtete, wie er sie ansah. In seinem Kopf spielten sich Geschichten einer aufregenden Vergangenheit ab, einer Vergangenheit, in der Könige und Kaiser auftraten, Strategen aus dem Hause Habsburg, Soldaten in blauen Uniformen. Im Hintergrund tanzten osmanisch-türkische Kämpfer einen Säbeltanz. Dann schoben sich die Gestalten von Georghiu-Dej und von Ceausescu vor, bleckten die Zähne und scheuchten graugewandete Gestalten von leeren Geschäften weg. Und schließlich trugen entschlossene Bürger die europäische Flagge vor sich her, rückten vor, bis sie – denn schließlich war Andreas Österreicher – vor Wien standen und dort ihr Recht auf alte Zugehörigkeit geltend machten. Gerahmt wurde die ganze bunte Schar von dunkelhäutigen und schwarzäugigen Figuren in farbigen Kleidern: Kindern, die um Wohnwagen liefen, alten und geheimnisvollen Frauen, die in großen Töpfen über offenen Feuerstellen rührten, und stoisch blickenden Männern, die unbeweglich und abwartend dastanden.

Michaela war der Schlüssel zu dieser Märchenwelt. Ein Hauch von Exotik umwehte ihre Gestalt. Und vereinte ihre Erscheinung nicht das ganze unglaubliche Völkergemisch dieses Landes? Wie gut, dass Andreas sie fragen konnte – nach Erinnerungen aus dem letzten Jahrzehnt eines kommunistischen Regimes, nach Erzählungen ihrer Großeltern aus der Zeit des Seitenwechsels während des Zweiten Weltkriegs, als die Eiserne Garde plötzlich verschwand und die Agenten der jungen Sowjetunion zu Boten neuer Allianzen wurden. An diesem Abend auf dem Fest im Hof des Schlosses Bran sprach Michaela ebenso viel, wie sie tanzte. Sie sprach von den Konflikten in ihrer Familie – der Großvater ein Nazi, der Onkel ein Kommunist, die Eltern nur einfach Arbeiter, die sich für ihre Kinder ein Studium wünschten. Sie erzählte von heimlichen Weihnachtsfeiern, von den gelegentlichen Besuchen des orthodoxen Priesters, der auch unter Ceausescu weiterarbeitete, bis er eines Tages auf einmal nicht mehr da war. Noch nie, so schien es Michaela, hatte sie so viel gesprochen. Sie sah das echte Interesse in den Augen von Andreas, mochte ihn dafür, und konnte es doch nicht verhindern, ihn kalt abschätzend zu betrachten, sich ihn als ihren möglichen Ehemann vorzustellen. Er würde sie in eine schöne Wohnung in Wien mitnehmen. Ihr Leben würde unbekümmert sein, aber ihr Mann würde ihrer Mutter niemals sagen können, wie gut ihm das Land seiner Frau gefiele. Aber andererseits würde ihre Mutter das ohnehin nicht glauben. Rumänen glauben nie, wenn man ihnen oder ihrem Land ein Kompliment macht. Die Minderwertigkeitsgefühle sitzen zu tief.

Michaela erinnert sich an diesen Abend in Bran, als sei er erst gestern gewesen. Und jetzt steht sie hier am Lac Balea und lässt sich fotografieren. Michaela fragt sich nur selten, ob sie glücklich ist. „Glück ist, wenn du einen leeren Kopf und einen vollen Magen hast“, pflegte ihre Großmutter zu sagen. Michaela stimmt dem zu, voll und ganz. Sie ist grundsätzlich ein pragmatischer Typ. Doch hier, auf der Terrasse, angesichts ihres Spiegelbildes in der großen Glas-Schiebetür, mit dem Schimmer des grünen Sees und den Bergen im Hintergrund, spürt sie auf einmal einen seltsamen Anflug von Zweifel. Sie möchte diesem Gefühl nicht nachgehen, schiebt es von sich wie einen lästigen Menschen, der zu nahekommt. Trotzdem bleibt da etwas, eine Ahnung, ein Eindruck von Unbehagen und Unruhe, nicht unähnlich der Wirkung des warmen Windes, den man auch Mistral nennt.

Michaela schüttelt sich wie ein Hund, der aus dem kalten Wasser kommt, und wendet sich von ihrem Spiegelbild ab. Ihr Blick trifft den eines Touristen, der an dem Tisch sitzt, vor dem sie steht. Es ist ein Mann in ihrem Alter, Nationalität ungewiss, Mimik belustigt-teilnehmend, der Mund ein angedeutetes Lächeln, der Ausdruck in den blauen Augen schockierend hellsichtig und wissend. Michaela lächelt nicht zurück.

Der Wind hat wieder aufgefrischt. Dieses unwürdige Fotoshooting im Blickfeld der Touristen scheint Michaela unendlich lange zu dauern. Sowohl die Frau mit dem Rucksack, der immer im Weg steht, als auch der Mann, der sie angelächelt hat, gehören zu einer Gruppe Deutsch sprechender Wanderer, bis auf zwei Männer, die Rumänisch miteinander reden. Der eine, klein, wendig, sportlich, wird wohl der Bergführer sein, in dem zweiten, groß, kräftig und dem Aussehen nach keiner Outdoor-Aktivität zugeneigt, vermutet Michaela den Busfahrer. Die Männer und Frauen trinken Kaffee, Limonade oder auch Bier. Sie lachen und unterhalten sich angeregt. Sicher waren sie den ganzen Tag in den Bergen, fühlen sich glücklich und erfüllt von schönen Ausblicken.

Michaela spürt schon wieder etwas Neues, Merkwürdiges, etwas, das sie nicht benennen kann. Es hängt mit der glücklichen Gruppe zusammen und dem Eindruck von selbstverständlicher Lebensfreude, den diese Menschen ausstrahlen. Michaela denkt plötzlich an ihre Schulabschlussreise. Die liegt lange zurück, mehr als zwei Jahrzehnte. Sie waren damals in Bulgarien, in Sofia und im Hochgebirge. Sie selbst war die Klassenbeste, unendlich selbstsicher und überzeugt von ihren Fähigkeiten, von der Möglichkeit, alles zu erreichen. Und glücklich war sie, warum auch nicht: sie war jung, hatte Freunde (noch keinen Freund, aber das lag nur an ihr selbst und ihrer Entscheidung, sich erst im Studium Beziehungsfragen zuzuwenden – ja, das hatte sie damals wirklich so formuliert: „Beziehungsfragen“!). Die Schule war vorbei, aber die Verantwortung für das weitere Leben hatte noch nicht begonnen. Michaela und ihre Schulfreunde fühlten sich geborgen in einer Struktur, die ihre Strenge und Belastung für sie verloren, die sie aber noch nicht aus ihrem Schutz entlassen hatte. Alles war möglich! Das Leben war wunderbar!

Und dann jener Abend im Jugendheim, wo sie übernachteten. Sie saßen im Speisesaal, alle etwas müde nach einem anstrengenden Tag in den Bergen. Auf einmal wurden Stimmen in einer Ecke des Saals laut. Engagierte Stimmen, zunehmend erregt, dann hieb eine Faust auf den Tisch. Geschirr klirrte. Lehrer mischten sich ein, und zwei Jungen verließen mit zornroten Köpfen den Speisesaal. Michaela war neugierig. Sie folgte den beiden Kontrahenten, von denen sie nur den einen kannte, einen Schüler aus ihrer Parallelklasse, der Ovidu hieß und ein guter Sportler war. Als sie nach draußen in die dunkle, warme Sommernacht trat, sah sie Ovidu und den anderen Jungen nebeneinandersitzen, auf einem umgestürzten Baumstamm, als Bank dienend, etwas entfernt von dem Gebäude. Michaela schlenderte näher, zündete eine Zigarette an. Sie hörte jetzt, dass es in dem Gespräch um Politik ging – worum auch sonst! -, und dass Ovidu offenbar einen nationalistischen Kurs für Rumänien wünschte, während der andere Junge eine Orientierung in Richtung der Europäischen Gemeinschaft vorschlug, nein, nicht vorschlug, sondern für unabdingbar, für die einzige Möglichkeit, den einzigen gangbaren Weg hielt. Aber die Luft des Sommerabends und die Tatsache, dass hier kein lauschendes Publikum saß, schien die Gemüter der beiden beruhigt zu haben. Sie tauschten Meinungen aus, doch in Ruhe und sogar bereits mit einem gewissen Überdruss, wie Michaela zu spüren meinte. Als sie dazu trat, lächelten beide. „Hallo“, stellte der Junge, den sie nicht kannte, sich vor, „ich bin Kristof. Und du?“ Michaela sah ihn an und wusste ein paar Sekunden lang nicht mehr genau, wie sie hieß. Er hatte ein so schmales Gesicht, seine Augen waren so dunkel, die Wimpern aus einer Laune der Natur heraus so hell und lang. Sie konnte die Augen nicht von ihm wenden.

Plötzlich, mit einem Ruck, landet Michaela wieder in der Gegenwart, auf der Terrasse des Restaurants am Lac Balea im Fagaras, als Bela, der Fotograf, ruft: „Fertig, das war´s!“ Michaela ist kurz desorientiert, schaut an sich herunter, sieht ihr weißes Kleid, erinnert sich, dass sie morgen heiraten wird. Für heute stehen noch weitere Fotos an, unten in der Stadt, in Sibiu, gemeinsam mit Andreas. Seine Familie ist aus Wien angereist: seine Schwester mit Mann und Kindern, seine mehr als achtzigjährige Mutter, zwei Freunde. Man wird gemeinsam essen gehen. Michaela hat alle schon getroffen. An Andreas, der achtzehn Jahre älter ist als sie, hat sie sich schnell gewöhnt. Wenn sie aber mit seiner Familie und seinen Freunden zusammen ist, fühlt sie sich sehr jung, - oder besser: sie findet Andreas dann sehr alt. Achtzehn Jahre, das ist eben doch eine Generation.

Michaela verlässt die Terrasse, um sich umzuziehen. Sie kann es kaum erwarten, das weiße Kleid loszuwerden. Deshalb ist sie wahrscheinlich unkonzentriert und eilig, und so stolpert sie, diesmal über ein paar schwere Bergschuhe, die jemand ausgezogen und mitten in den Gang zwischen zwei Tischreihen gestellt hat. Michaela stolpert also, und dann stürzt sie. Wenn sie sich sehen könnte, dann würde sie lachen: eine Frau in weißem, gerüschten Kleid mit aufgebauschtem Rock, die nach vorn schießt, mit vorgebeugtem Oberkörper, um dem Schwung eine Richtung zu geben, in der er sich verlaufen kann, aber es nützt nichts, die Strecke bis zur Glasfront ist zu kurz, Michaela rennt in das Fenster, prallt mit dem Kopf gegen die Scheibe, die zum Glück nicht zersplittert, fällt zu Boden und hört das Geräusch zerreißenden Stoffes.

Dreißig Minuten später

Michaela sitzt mit blutender Wunde auf einem Stuhl. Der Stuhl ist mit einem roten Polster überzogen, deshalb kommt es ihr so vor, als sei es ein Thron. Das Blut, das den provisorischen Verband um ihren Kopf nässt, ist auch rot.

Die Wunde hat sich Michaela beim Sturz zugezogen, als sie an der scharfen Kante des Metallabsatzes, mit dem das Glasfenster eingerahmt ist, aufschlug. Ihr Fall hat die ganze Besucherschar auf der Terrasse aufgescheucht: Touristen sprangen auf, riefen erschrocken in verschiedenen Sprachen durcheinander, rückten Stühle, Bänke und Tische, griffen nach Dingen, die auf dem Boden verstreut lagen. Auch die Wanderschuhe, über die Michaela gestolpert ist, wurden entfernt, das hat sie aus dem Augenwinkel beobachtet. Als sie dalag und nach dem ersten Schock begann, den Schmerz an ihrer Stirn zu fühlen, dachte sie ganz kurz darüber nach, ob vielleicht jener Mann mit den blauen Augen und dem wissenden Blick Arzt sei und ihr jetzt erste Hilfe leisten würde. Aber dann war es eine ältere Frau, eine Rumänin, die sich auf die laut gerufene Frage nach einem Arzt meldete.

Ernst verletzt ist Michaela nicht. Nach Aussage der Ärztin ist es nur eine Platzwunde. „Die bluten am meisten, sieht dramatisch aus, aber kein Grund zur Besorgnis!“, versicherte die Frau mit ungerührter Miene. Kein Wort zu Michaelas weißem Brautkleid, das zerrissen und befleckt an ihr hängt wie ein schlecht passender, alter Fetzen, den sie in dem vernachlässigten Fundus eines Theaters entdeckt und übergezogen hat. Irgendwie kommt Michaela alles wie ein Theaterstück vor, das entweder nicht gut inszeniert oder aber als Komödie angelegt ist. In diesem Fall wäre es gut gelungen. Die Braut wird zuerst vom Wind zerzaust, dann von Zweifeln an ihrer Hochzeit befallen. Sie erblickt einen attraktiven Mann, hat das Gefühl, dass zwischen ihr und diesem Mann ein unausgesprochenes Seelenband besteht, fällt anschließend zu Boden und ist bereit für eine Wendung in ihrem Leben. In einer solchen Komödie müsste der Mann allerdings jetzt beginnen, eine Rolle zu spielen, die über die des bedeutsam wirkenden Beobachters hinausgeht. Er würde irgendwie aktiv werden, zu ihr treten, sich als Verwandter oder als bester Freund des Bräutigams entpuppen. Und sie selbst, Michaela, müsste jetzt auch die Geschichte weiterentwickeln: Entweder würde sie vor Ärger schäumen und so eine vielversprechende Nuance ihrer Persönlichkeit demonstrieren, mit der man weitere Filminhalte gestalten könnte. Oder sie wäre tatsächlich verletzt und würde anrührend aussehen. Auch das hätte das Potenzial zu diversen Entwicklungen. Stattdessen sitzt sie aber nur da, sieht wenig ansprechend aus, sagt nichts, weiß auch nicht, was sie denken soll. In ihrer Nähe fuchtelt Bela, der Fotograf, mit seiner Ausrüstung herum. Er ärgert sich offenbar, wahrscheinlich befürchtet er, der Rest des Auftrags – mit Fotos und Filmen rund um die Hochzeit selbst – könnte ihm jetzt entgehen, angesichts einer Braut, die nicht gerade fotogen aussieht und die sich auch nicht bemüht, die Situation in Ordnung zu bringen.

Michaela überlegt, warum die Situation nicht in Ordnung ist. Sie versucht sich zu erinnern, wann sie angefangen hat, Andreas nicht mehr zu mögen. War es, nachdem sie seine Familie kennen gelernt hat? Nein, es war schon vorher, kurz nach ihrer schnellen Verlobung. Sie denkt an den Abend, an dem sie auf ihre Zukunft anstoßen wollten. Sie saßen in einem Restaurant in Sibiu. Andreas war aufmerksam, füllte ihr Glas ständig mit Wein nach, obwohl sie nur kleine Schlucke daraus trank. Eigentlich mochte sie keinen Alkohol, er machte sie müde, schlecht gelaunt und brachte sie dazu, Dinge zu sagen, die sie lieber für sich behalten würde. Das Restaurant, in dem sie saßen, lag am Großen Platz mit den schönen, italienisch anmutenden Häuserfassaden. Michaela blickte aus dem Fenster und sah mitten auf dem Platz eine alte Frau, die dort Tauben fütterte. Die Vögel umschwirrten die Frau, die eine Tüte mit Brot in der Hand hielt und immer wieder Brocken in die Luft warf. Es sah aus wie ein seltsamer Tanz: eine gebückte Gestalt in weiten, grauen Kleidern und mit Kopftuch, die ihre Arme hob und senkte, sich langsam drehte, einen Fuß vor den anderen stellte, und das alles in einem geheimnisvollen Rhythmus, es sah aus wie die Aufführung eines hingebungsvollen Requiems. Die Tauben folgten einem schnelleren Takt, stürzten sich auf das Brot, schnellten wieder empor, flatterten wild um den Kopf der Frau, landeten auf dem Pflasterstein und schwangen sich gleich wieder in die Höhe. Sie waren die schrillen Töne des Widerstands, störend und disharmonisch. Der Anblick stimmte Michaela traurig. Andreas dagegen war begeistert, er fischte seine große Kamera aus dem Gepäck und schoss sofort Fotos.

Michaela schaute zu, sah ihn an, wie er sich weit zur Seite neigte und das Tele-Objektiv, ein obszön wirkendes, sehr langes, schwarzes Rohr an der Kamera, komplett ausfuhr, um die Szene ganz groß aufzunehmen. Michaela begann sich über ihn zu ärgern, über seine allzu auffällige Touristenhaltung, seine laute Stimme, die Ungeniertheit, mit der er sich als Voyeur inszenierte. „Du bist ungerecht“, sagte sie im Stillen zu sich selbst. „Die Frau da draußen möchte doch bemerkt und fotografiert werden. Sie weiß, dass hier Touristen sitzen. Du kannst es doch nicht voyeuristisch nennen, wenn jemand auf ihr Angebot eingeht und sie filmt!“ Natürlich nicht, und doch empfand Michaela es als aufdringlich. Sie starrte Andreas an, seine hellhäutige Hand, die wie in einem Krampf die Kamera umkrallte. Sein Pullover rutschte über das Handgelenk, sie sah, dass sein Hemd an den Ärmeln ausgefranst war. Ihr Blick folgte dem Arm, der die Kamera hielt, bis zur Schulter und zum Hals. Zum ersten Mal bemerkte sie den prominenten Adamsapfel, dann die harte Linie des Kinns, glattrasiert. Andreas Haut war so weiß! Ging er denn nie in die Sonne? In diesem Moment senkte er die Kamera und wandte sich ihr stolz lächelnd zu. „Gute Szene!“ Michaela zwang ein Lächeln der Erwiderung in ihr Gesicht und nahm dann hastig einen großen Schluck Wein. „Magst du es eigentlich, in der Sonne zu liegen?“ Die Frage kam, ohne dass sie es geplant hatte. Andreas Stimme klang erstaunt, als er antwortete. „Na ja, ab und zu. Aber ein Sonnenanbeter bin ich nicht, das garantiere ich dir!“ Er lachte glücklich. „Darauf kann ich wetten“, dachte Michaela grimmig. Dann erschrak sie. Warum war sie so gereizt? Sie sammelte Eindrücke von Andreas, die zu einer Reiseleiterin passten, die ihre Kunden nicht mag, aber so nehmen muss, wie sie sind. Aber sie war doch nicht mehr seine Reiseleiterin, sie wollte ihn heiraten!

Das war der Anfang. Dann folgten andere Momente: Andreas, der neben ihr zum Haus ihrer Mutter ging, dabei so merkwürdig kleine, trippelnde Schritte machte. Sie schaffte es, darüber zu lachen, als er später beim Kaffeetrinken holperig die vorbereiteten Sätze auf Rumänisch wiederholte, die sie mit ihm geübt hatte: „Ich bin sehr froh. Ihr Haus ist schön. Der Kuchen schmeckt gut.“ Es klang ungeschickt und lächerlich, wie ein Halbwüchsiger, der sich nicht ausdrücken kann. Wieder ermahnte Michaela sich selbst, nachsichtig und liebevoll zu sein. Gleichzeitig urteilte eine innere Stimme, die sie gut kannte und „mein philosophisches Ich“ nannte, ihren Beschluss: „Nachsichtigkeit kann man lernen. Liebevoll zu sein entspringt einem Gefühl, dazu kann man sich nicht zwingen.“ „Ja, richtig!“, antwortete Michaela laut, zum Erstaunen ihrer Mutter, die gerade Kaffee nachfüllte und diese Aussage auf sich bezog, denn Michaela hatte ja Rumänisch gesprochen. Als Andreas sie in ernstem, bedeutsamem Ton fragte: „Gibt es im Hause deiner Mutter zufällig Kandiszucker?“, dachte Michaela zuerst, er habe das als Witz gemeint. „Braunen oder weißen?“, fragte sie ironisch. „Sehr gern braunen, meine Liebe“, antwortete ihr Verlobter und sah sie treuherzig an. Michaela zuckte zusammen, dann brach sie in wildes Gelächter aus, das nicht nur Andreas, sondern auch ihre Mutter verstörte. „Was ist los, hast du wieder deinen Spleen?“, fragte ihre Mutter ärgerlich. Michaela lachte, bis ihr die Tränen kamen.

Nachts ging es glücklicherweise immer gut. Was am Tage, im hellen Licht, mit den Augen einer vom Verstand beherrschten Frau, nicht funktionierte, das blieb im Dunkeln verborgen, ließ sich in der Intimität zweier Menschen, die ein Bett und einige Wünsche teilen, leicht vergessen oder zur Seite schieben. Doch schon beim Frühstück wurde Michaela wieder von gereizten Gefühlen geplagt, wenn sie Andreas zusah, wie er umständlich und zu präzise sein Brötchen bestrich, wie unangenehm offenherzig er seine Serviette benutzte. Sie fand seine langsame, bedächtige Art zu sprechen irritierend, teilte seine politischen Ansichten nicht, auch wenn sie nicht aus dem Rahmen fielen. Er genoss alle Vorteile eines geeinten Europa und bewunderte dennoch die Entschlossenheit Großbritanniens, die Union zu verlassen. Er war ein Befürworter des Rechts auf politisches Asyl, wollte es aber auf die „Bedürftigen“ beschränkt wissen. Eine Methode, Bedürftige von Nicht-so-Bedürftigen zu trennen, hatte er nicht anzubieten, meinte aber, eine solche Trennung müssten politische Experten doch leisten können. „Profi-Politiker“, sagte er immer, ein Ausdruck, der Michaela ganz wild machte. „Wir alle sind Profi-Politiker, oder? Meinst du, nur diejenigen, die dafür Geld bekommen, kennen gute Lösungen?“ Sie sah ihm an, dass er gekränkt war, wenn sie so mit ihm sprach. Dann tat er ihr leid, und sie lenkte das Gespräch auf etwas anderes. Sie konnte es aber nicht verhindern, in solchen Augenblicken an Kristof zu denken. Sein schmales Gesicht hatte vor Begeisterung geglüht, wenn sie ganze Nächte durchdiskutiert hatten. Er wurde ärgerlich, wütend, formulierte Gegenargumente, wenn sie ihn mit ihren Thesen konfrontierte, nahm ihre Fragen als Aufforderung zu weiteren Fragen, manchmal auch zu Antworten. Niemals hörten sie auf, über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit zu sprechen, über Freiheit und Unterdrückung, Wirtschaft und Wissenschaft, strategische Politik und taktische Manöver. Wenn sie Kristof betrachtete, sah sie nichts, was sie störte. Alles stimmte genau.

Michaela sitzt immer noch im Gasthof am Lac Balea. Sie ruft sich energisch die Wirklichkeit ins Gedächtnis. Kristof ist nicht mehr da. Er ist weiter weg, als er es je sein könnte, wenn er tot, verheiratet oder ausgewandert wäre. Kristof ist jetzt der Geliebte eines anderen Mannes.

Und Andreas ist der Mann, den sie heiraten wird.

Fünf Minuten später

Bela hat seine Sachen jetzt zusammengepackt. Alles ist in passenden Taschen, Koffern, Hüllen verstaut. Sein Team ist bereits abgefahren. Bela steht vor Michaela, die Arme in die Seiten gestemmt. „Geht es dir gut genug? Können wir jetzt fahren?“ Sein Ton ist nicht gerade mitfühlend, eher leicht genervt. Michaela sieht ihn an. Er ist nicht mehr so jung, wie er einmal war. Den Sprung vom Auftragsfotografen zum freischaffenden Künstler hat er nicht geschafft, obwohl es ihm ganz gut geht, wirtschaftlich gesehen. In seiner Freizeit bastelt er an alten Autos herum, die bei ihm im Hof stehen, in dem Teil der Altstadt von Sibiu, der nicht mehr ganz so malerisch ist. Von der EU ist ziemlich viel Geld nach Rumänien geflossen: etliche der historisch interessanten Gebäude konnten davon renoviert werden, Straßen wurden neu asphaltiert, Brücken gebaut. Da, wo Bela wohnt, ist es – wenn überhaupt – eher der verkommene Charme, den Touristen fotografieren. Aber so viele von ihnen verirren sich auch nicht hierhin, höchstens dann, wenn sie auf dem Weg zum Markt am Fluss sind, weil sie sehen möchten, „wo die Einheimischen einkaufen“. Wenn sie es dann sehen, sind sie fast immer schnell wieder weg. Wo Einheimische einkaufen, leben, arbeiten – das ist immer nur romantisch, solange man darüber liest.

Aber Bela kann zufrieden sein. Er besitzt sogar das Haus, in dem er wohnt. Von seinen künstlerischen Ambitionen hat er sich schon lange verabschiedet. Früher einmal wollte er die Fotografie revolutionieren. Seine Spezialität waren Bilder mit kontrastreichen Schattenund Lichtspielen. Bäume, von unten schräg gegen den Himmel fotografiert, mit weit ausladenden Zweigen, durch die einzelne Sonnenstrahlen fallen, die Bela so einfing, dass sie für den Betrachter greifbar schienen. Gesichter von Menschen, mit Augen, die tief eingesunken aussahen, mit Schatten darunter, die sie wunderschön und alt zugleich machten. Autos, lässig am Straßenrand geparkt, so aufgenommen, dass der Schatten auf die Straße fiel: schwarze Löcher, aus denen metallene Roboter erwachsen, das war der Eindruck, den der Betrachter hatte. Und natürlich die Menschen von Sibiu, die ihren Alltagsgeschäften nachgingen: Bela fotografierte Menschen beim Biertrinken, alte Männer beim Brettspiel im Park vor dem großen Hotel, junge Mädchen und Frauen auf Parkbänken, auf dem Weg zum Markt, beim Einsteigen in einen Bus. Stets wurden heitere Szenen von einer Woge des Dunklen fortgerissen, glückliche Paare von ihrem eigenen Schattenbild bedroht. Eines der Bilder, das einen etwa sechzigjährigen, sehr schlanken, ernst schauenden Mann zeigt, der, mit Skiern unter dem Arm, dem Betrachter des Bildes eigentlich den Rücken zuwendet, aber durch eine spontan wirkende Bewegung zurückschaut und den Mund leicht öffnet, als wolle er rufen: „He! Wer bist du denn? Was schaust du mich an?“ – dieses Foto wurde in einer großen rumänischen Zeitschrift veröffentlicht. Ein politisch interessierter Journalist wählte es für eine Reportage über das sich wandelnde Land aus und versah es mit dem Untertitel: „Wohin bewegt sich Rumänien?“ In dem Artikel ging es dann um die Frage, ob die Rumänen der alten Generation bereit seien für einen Wertewandel, der mit der europäischen Integration kommen werde. „Menschen dieser Generation“, schrieb der Journalist, der selbst sicher nicht älter als 25 Jahre war, „diese Menschen wurden zweimal in eine andere Zeit katapultiert: 1990 begann für die damals 40-Jährigen eine Ära der Moderne, die ihr westlicher Nachbar, also Österreich, auf natürlichem Wege bereits seit mehr als dreißig Jahren beschritten hatte. 2007, mit dem Beitritt zur EU, wurden diese Menschen erneut in eine neue Welt geworfen: eine Welt, die ihnen eine ganz fremde Sicht auf Gut und Böse eröffnete. Die Nachbarn, die sie bis dahin als Zigeuner kannten und von denen sie sich fernhielten, waren auf einmal eine ethnische Minderheit, die als schützenswert und besonders galt, und die sie „Roma“ nennen sollten. Was denken die heute Sechzigjährigen von dieser Welt? Was nehmen sie mit, wohin gehen sie, wohin ist ihr Blick gerichtet? Was von allem, was sie gelernt haben, was ihnen wichtig war, können sie bewahren?“ Und so weiter in dem Tenor. Der Artikel wurde erstaunlicherweise im Westen bekannt, der Journalist erhielt einen Preis in Deutschland. Das Foto aber blieb hier, es wurde im Stadtmuseum ausgestellt, ohne Kommentar, gleich im Eingangsbereich, und zwar in Überlebensgröße. Belas einziger Erfolg als Künstler.

Jetzt sieht Michaela, dass Bela, obgleich unzufrieden mit dem Verlauf dieses Tages, im Grunde ein glücklicherer Mensch ist als jemals zuvor. Er muss sich nicht mehr anstrengen, einen besonderen Blick zu entwickeln. Die Fotografie ist sein Geschäft, eine Angelegenheit von richtiger Beleuchtung, korrekter Blendeneinstellung, guter Perspektive. Eine Sache für einen Profi, der keine subjektive Perspektive einnehmen muss. Bela fotografiert gut, aber leidenschaftslos. Seine Liebe sind die alten, rostigen Autos in seinem Hof. Deshalb wartet er jetzt ungeduldig auf eine Antwort von Michaela. Er kann sich gerade noch zügeln zu fragen: „Was ist denn jetzt? Können wir endlich?“

Michaela grinst ihren alten Freund an. „Alles ist gut, Bela. Aber weißt du, ich möchte jetzt noch nicht fahren. Ich bleibe noch hier. Später fahre ich mit der Gruppe da und ihrem Bus in die Stadt. Der Busfahrer hat es mir schon angeboten, bei ihm ist reichlich Platz. Fahr du ruhig schon. Wir sehen uns morgen. So wie ich aussehe, kann ich heute Abend ohnehin keine Fotos mehr machen lassen.“ Bela schaut sie abschätzig an, unsicher, was er machen soll. „Wirklich, alles ist in Ordnung. Ich möchte einfach noch etwas hier sitzen und mich ausruhen.“ Bela sieht den Busfahrer der Touristengruppe – den großen, kräftigen Mann, der also tatsächlich genau das ist, wonach er aussieht – von der Terrasse aus winken und nicken. Zögernd stimmt er zu. „Na schön, wenn du meinst, Micha. Du hast wirklich keine Schmerzen mehr?“ Er deutet auf ihren Verband. Michaela lächelt. „Wirklich nicht. Danke, Bela, und bis morgen.“ Sie blickt Bela nach, wie er zu seinem ramponierten Auto geht, beladen mit seinen diversen Taschen und Koffern. Er ist nicht mehr jung, aber er weiß genau, was er will, wer er ist und auch, wohin er geht. Beim Auto dreht er sich um, winkt kurz. Michaela winkt zurück. Was soll sie jetzt tun? Die Gruppe wird sicherlich noch eine gute Stunde hierbleiben, sie haben sich nach den aufregenden Ereignissen gerade gefasst und der Karte zugewandt. Sie werden etwas zu essen bestellen, das dauert. Michaela blickt wieder aus dem Fenster. Soll sie ein wenig wandern? Ihr Kopf schmerzt allerdings doch noch, das Laufen würde ihr nicht guttun. Außerdem macht eine ramponiert aussehende Frau in einem schmutzigen, weißen Brautkleid keine gute Figur als einsame Wanderin in großer Höhe. Michaela beschließt, sich erst einmal umzuziehen. Sie hat ihre Alltagskleidung mit: Jeans, ein alter Pulli, Stiefel. Das hätte sie schon längst machen sollen. Als sie aufspringt, muss sie sich gleich wieder setzen. Es war zu schnell, ihr wird schwindelig. Hoffentlich hat sie keine Gehirnerschütterung! Das zweite Mal erhebt Michaela sich langsam. Sie verschwindet mit ihrem Beutel in der Toilette. Als sie kurz darauf die Gaststube wieder betritt, sieht sie ganz anders aus. Sie ist weder die hübsch zurecht gemachte, wenn auch nicht mehr ganz junge Braut, noch die verrückte Irre, die in voller Montur in eine Glasscheibe gelaufen ist. Sie ist einfach eine Frau Ende Dreißig, die vielleicht auf einer Wanderung gestürzt ist und provisorisch bandagiert wurde.

Ansonsten ist an dieser Frau nicht Besonderes.

Zehn Minuten später

Jeder Weg hat zwei Richtungen.

Das ist ein rumänisches Sprichwort, und Michaela findet, dass es passt: Sie steht vor einer Weggabelung, nachdem sie zehn Minuten lang den Pfad am felsigen Hang aufgestiegen ist, der sich direkt von Lac Balea aus nach oben bis auf den ersten Grat windet. Von hier aus hat man schon einen schönen Blick. Jetzt führt ein Weg in einer großen Runde auf gleichbleibender Höhe wieder zurück zum See. Der zweite Pfad ist steil; wenn man ihm folgt, kann man den Bergvorsprung umrunden. Dann wird sich der Blick auf weitere Täler und Bergmassive öffnen, bis weit in die Ferne kann man, zumindest an klaren Tagen, über die gesamte Welt der Südkarpaten sehen. Michaela war hier zuletzt als Kind, mit ihrem Vater und ihrem Bruder. Es war ein sehr klarer, wenn auch kalter Tag, sie weiß noch, dass sie etwas Angst hatte, das aber nicht zeigen wollte. Sie erinnert sich, wie es sich anfühlte, hinter ihrem Vater zu gehen, den Blick auf den steinigen Pfad unter ihren Füßen gerichtet, die Aussicht auf die schroffen Abhänge und die weitgeschwungenen Täler vermeidend. Den Sog der Tiefe konnte sie dennoch spüren, ein Kribbeln in ihren Fußsohlen signalisierte Gefahr und Angst, sie hatte ein beengendes Gefühl in der Brust. Trotzdem ging sie damals immer weiter, Schritt für Schritt, bis sie zu dritt den Kamm erreichten. Dort lief dann ihr Bruder begeistert mit der Kamera umher, fing Anblicke und Ausblicke ein, furchtlos und sich der Gefahr eines möglichen Fehltritts nicht einmal bewusst. Michaela saß auf der Wiese, die Beine von sich gestreckt, auf die Arme gestützt, und krallte unmerklich ihre Finger in das Gras, einen Halt suchend. Ihr Vater setzte sich neben sie, er bemerkte ihre Angst nicht, war glücklich und erfüllt von diesem wunderschönen Tag in den Bergen, die er liebte. Er zeigte, den Arm in einem großen Bogen führend, auf Gebirgsketten, nannte Namen, erzählte von Wanderungen, die er dort unternommen hatte.

Als sie dann wieder unten am See waren, sagte Michaela, sie müsse auf die Toilette, ging auch in die damals noch eher einfache Vorrichtung – das Restaurant gab es damals noch nicht -, erbrach dort ihre ganze Anspannung, wusch sich anschließend das Gesicht und trat dann wieder hinaus zu ihrer Familie. Anschließend packten sie das Picknick aus, und tatsächlich konnte Michaela das Essen genießen, sie wusste noch, dass sie sogar mit ihrem Bruder um eine zweite Hühnerkeule stritt.

Jetzt muss Michaela wieder entscheiden, welchen Weg sie einschlagen soll. Natürlich gibt es nicht nur zwei, sondern drei Richtungen: gleich zurück ins Tal, aber das scheidet von vornherein aus. Nach links den sicheren Weg am Hang entlang. Und den steilen Pfad nach oben, den sie unbedingt einschlagen möchte, denn deshalb ist sie hier hinaufgestiegen. Ganz kurz zögert Michaela noch, sie spürt die Angst wieder, die ihr Körper seit fast dreißig Jahren gespeichert hat, irgendwo, sie weiß nicht, wie er das macht, der Körper, mit dem Bewahren und Abrufen von Daten, die doch gar nicht mehr aktuell sind. Ganz kurz schweifen ihre Gedanken ab, sie überlegt, wie man diese biologische Vorrichtung in der modernen Welt nutzen könnte: diesen Mechanismus der Datenspeicherung und den Filtern, die das Auffinden relevanter Informationen in Bruchteilen von Sekunden ermöglichen. Das müsste man doch in eine technische Analogie umwandeln können, in einem selbst lernenden Software-System, oder gibt es das längst? „Konzentriere dich auf das Wesentliche, dein Gehirn sucht Ausflüchte, um sich schwierigen Entscheidungen und Belastungen nicht stellen zu müssen!“, mahnt Michaelas innere Stimme. Sie nickt, gibt sich einen Ruck und beginnt, ohne weiter zu überlegen, den steilen Pfad hinaufzusteigen.

Heute ist es viel schwerer. Als Kind folgte sie ihrem Vater, wusste, dass er ihr in größter Bedrängnis würde helfen können. Heute ist hier niemand, der ihr eine Hand reichen würde, sie ist allein hier oben – es ist schon spät, die Dämmerung wird bald hereinbrechen, sie kommt früh hier in den Felshängen. Die Wanderer sind alle unten, steigen in ihre Autos oder Busse, oder sie sind zumindest auf dem Abstieg. Michaela ist wirklich allein.

Schritt für Schritt steigt sie weiter. Sie bemüht sich, nicht auf lose Steine zu treten, zwingt sich, langsam und stetig zu gehen. Der Weg windet sich in Kurven empor, jedes Mal, wenn sie wieder eine Schleife erreicht und die Richtung wechselt, setzt ihr Herzschlag fast aus. Sie muss sich anstrengen, um noch genug Luft in die Lungen zu bekommen, ihr Atem ist flach, das ist die Panik, sie weiß es. Gleich hat sie die Stelle erreicht, an der sie den Berg umrunden wird. Der Blick wird sich weiten, sie muss sich darauf vorbereiten, mental. Sie darf nicht aufsehen, muss den Blick stur auf den Boden gerichtet halten. Sie darf der Anspannung nicht nachgeben, muss die Angst bezwingen, das Bedürfnis, aufzusehen, sie darf der Gefahr nicht ins Auge sehen, nur aus den Augenwinkeln darf sie die weiten Abgründe registrieren.

Registrieren ist ein gutes Wort dafür, sie muss sie als Randerscheinung zur Kenntnis nehmen, als ein Faktum notieren, einsortieren, ablegen, Tür zu. Nur so kann es gehen.

Michaela erreicht den Punkt der Wende am Berghang. Unübersehbar schwingen sich die Hänge jetzt in drei Richtungen, dahinter weitere Täler und Hänge, immer weiter, ohne absehbares Ende. Es ist nicht nur die Tiefe, die ihr – im wahrsten Sinne des Wortes – den Atem nimmt und ihren Brustkorb ganz eng zuschnürt. Es ist vor allem die Weite, die dazu kommt, diese beiden Perspektiven, die sich zusammentun, sind es, die ihr die Kontrolle entziehen. Gedankenfetzen schwirren in Michaelas Kopf herum – eindimensional, Gefahr von mehreren Ebenen, kein Rückweg in Sicht, Unendlichkeit der Tiefen und Höhen, Füße auf dem Boden, Gras weht im Wind. Das alles ist ohne Sinn und Verstand, Michaela kann die Worte nicht zu Sätzen fügen, sie kann keinen Gedanken aufbauen, sie fühlt sich wie ein Wesen ohne Intellekt, ohne Geist. All ihre Kraft ist auf das Weitergehen ausgerichtet, auf die Beherrschung ihrer Panik, auf das Ringen um Luft, auf den nächsten Schritt. Wenn sie auch nur ganz kurz nachlässt in ihrem Kampf, dann wird sie niedersinken, sie wird sich an Grashalme klammern, sie wird nie wieder aufstehen können, es sei denn, zum Herbeiführen eines Sturzes in die Tiefe.

Michaela geht weiter. Ein Schritt. Steine. Noch ein Schritt. Der Wind pfeift. Schritt um Schritt. Einen Rhythmus finden. Wie Soldaten im Krieg. Deshalb gibt es Marschlieder, Trommelschläger, lautes, gemeinschaftliches Zählen. Das Denken wird ausgeschaltet. Man funktioniert. Ja, auch das hier ist Krieg. Ein Krieg um das Überleben. Schritt. Eine Wurzel. Fahles Gras. Schritt. Der Wind ist sehr kalt. Plötzlich wird Michaela bewusst, dass sie wieder in Sätzen denkt, in stimmigen Bildern, in zutreffenden Vergleichen. Sie blickt auf. Vor ihr liegt eine sanft geschwungene Wiese. Der Abgrund und die Gebirgsketten sind verschwunden. Es ist vorbei. Sie hat es geschafft.

Fünfzehn Minuten später

Michaela sitzt auf der Wiese. Sie muss nicht mehr nach oben steigen, auf den Bergrücken, von wo aus sie eine herrliche Aussicht auf den Lac Balea haben wird. Die Gefahr ist bereits bezwungen, sie hat die Bergwende bewältigt. Das war ihr Ziel. Sie hat ohnehin kein Picknick mit, könnte nicht oben sitzen und essen, um die Situation herbeizuführen, die sie als Kind erlebt hat. Aber das war ja auch gar nicht ihre Absicht. Sie wusste, als sie losging, dass sie die Kraft zu jeder Entscheidung haben würde, wenn sie hier oben wäre. Wenn sie die Gefahr überwinden, ihre Panik beherrschen könnte.

„Ich bin hier“, denkt Michaela, atemlos, aber diesmal vor Glück. „Ich habe es geschafft. Jetzt bin ich zu allem bereit.“

Es ist warm hier und windgeschützt. Allerdings wird es nicht mehr lange dauern, bis die Sonne hinter dem Bergrücken verschwindet. Zwanzig Minuten, schätzt Michaela. Sie horcht auf Vögel, hört aber nichts. Es ist wirklich still hier.

„Gleich werde ich wissen, was ich tun muss.“ Michaela sieht auf die Uhr, während sie das denkt. Sie wird in spätestens zehn Minuten aufbrechen müssen. Wann fährt eigentlich der Bus ab? In rund eineinhalb Stunden. Das wird sie auf jeden Fall schaffen. Und bis dahin wird alles klar sein für sie. Michaela kann es kaum glauben: sie hat den Angstpfad bewältigt! Allerdings muss sie noch zurück. Kaum hat sie das gedacht, spürt sie schon wieder die Panik. Sie richtet ihren Blick auf die sicheren, grünen Wiesen. Alles ist gut! Sie ist hier und wird eine Entscheidung treffen. Aber sie merkt, dass sie jetzt nur noch an den Rückweg denkt. Bergab ist es schwieriger als bergauf. Und es wird bald dunkel, und sie darf den Bus nicht verpassen. Michaela steht auf. Sie wird wissen, was sie tun will, wenn sie unten ist. Vielleicht dann, wenn sie im Bus sitzt, sich ausruht und aus dem Fenster sieht. Jetzt muss sie jedenfalls erst einmal nach unten.

Es geht dann ganz leicht, denn Michaela trifft eine späte Wandergruppe, die von einem langen Tagesmarsch zurückkommt. Acht Menschen, drei Frauen und fünf Männer. Gut trainierte Sportler. Michaela schließt sich ihnen an, eine der Frauen bemerkt, dass sie sich nicht wohl fühlt, und bleibt, ohne ein Wort darüber zu verlieren, ganz nah bei ihr. Jetzt liegen die Kurven des Pfades schon hinter ihr. Hier ist die Stelle, an der die zwei Wege sich teilten. Jetzt gehen sie den sicheren, den ungefährlichen, den problemlosen Weg. Michaela kann jetzt wieder laufen, ohne auch nur an Abgründe zu denken. Die Sonne ist hinter dem Berg versunken. Es ist schattig und kühl, im Gasthof unten werden die ersten Lichter angezündet. Es stehen noch viele Autos da, und auch noch der Bus, mit dem Michaela ins Tal fahren wird.

Eigentlich gibt es gar nichts zu denken. Darum geht es gar nicht. Es geht darum, abzusteigen, auf lose Steine zu achten, Meter für Meter näher zu rücken. Die Wanderer der Gruppe haben aufgehört, sich zu unterhalten. Sie sind müde, es ist spät, es war ein langer Tag. Auch Michaela schweigt. Auch sie ist müde.

Gleich werden sie da sein. Ja, da ist der Busfahrer, der ihr angeboten hat, sie mit nach Sibiu zu nehmen. Sie winkt ihm zu: „Ich bin gleich da!“ Er scheint ungeduldig zu sein, deutet auf die Uhr. Michaela ruft ihren Wanderfreunden ein Auf Wiedersehen zu und läuft das letzte Stück.

Zwei Minuten später

Und jetzt ist es passiert: ein paar Meter vor dem Bus ist sie schon wieder gestolpert. Beim Hinfallen hat sie sich diesmal das Knie aufgeschlagen, nicht so schlimm, aber immerhin: die Hose ist zerrissen, und Blut sickert durch den Stoff. Der Busfahrer hat ihr, diesmal mit mehr Unmut als Besorgnis, aufgeholfen. „Wird es gehen?“, fragt er ungehalten. Michaela nickt. Es tut eigentlich kaum weh. Die Stimme in ihrem Kopf spöttelt: „Wenn du nicht weißt, wohin du gehen sollst, dann fall einfach hin! Das löst mit Sicherheit all deine Probleme!“

Als Michaela dann im Bus sitzt und so aus dem Fenster sieht, wie sie es sich zuvor ausgemalt hat, kommt ihr ein weiteres Sprichwort in den Sinn: „Wer nirgends hingeht, der kann auch nirgends hinkommen.“ Sie hat das Gefühl, dass hier die Antwort auf ihre Frage liegt. Aber sie ist nicht ganz sicher, ob sie sie versteht. Sie schaut auf die Uhr. In zwei Stunden wird sie in Sibiu sein. Bis dahin wird sie auf jeden Fall wissen, was sie tun wird.

Soviel ist sicher.


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