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Not always right

Montag, 10. Dezember 2018

Über Fortgeschrittene, Psychotherapeuten und neue Eissorten


Ich war immer schon sehr viel schneller als alle anderen, und daran hat sich bis heute nichts geändert. Manchmal ist es ganz schön nervig, wenn andere nichts kapieren.

Als ich noch klein war, so um die vier Jahre alt, war ich deswegen häufig verwirrt. Beispielsweise, als meine Mutter mir und meinem Freund, dem Sohn unserer Nachbarn, dieses Kartenspiel beibringen wollte. Sie erklärte uns, wie man bestimmte Kartenkombinationen auslegen musste und dann die restlichen Karten irgendwo anlegen, bis man keine einzige mehr auf der Hand hatte. Als ich sie fragte, ob man auch tauschen dürfe, also Joker von ausgelegten Stapeln durch Karten mit entsprechendem Wert ersetzen, um dann den Joker für jede beliebige Karte auszulegen, - als ich diese Frage stellte, schaute meine Mutter mich ganz seltsam an. Sie nickte dann und erklärte, das sei die erweiterte Spielregel für „Fortgeschrittene“. Mir war vollkommen unverständlich, warum wir das Spiel ohne diese Regel spielen sollten. Aber mein Freund kapierte sowieso nichts, und deshalb machte alles sowieso keinen Spaß.

Damals dachte ich, der Begriff „Fortgeschrittene“ beziehe sich auf alle Menschen, die normal in ihrer Entwicklung fortschreiten. Meinen Freund hielt ich seitdem für einen extrem langsamen Typen, einen, der nicht fortschritt, sondern stagnierte. Ich ging dazu über, Kinder im Kindergarten zu fragen, ob sie Fortgeschrittene seien oder nicht. Niemand verstand meine Frage, die Erzieher mahnten mich, nicht unverschämt zu sein, was ich wiederum überhaupt nicht begriff. Ich erklärte, es sei doch eine absolut objektive Frage. Die Erzieherin starrte mich an und fragte, woher ich das Wort „objektiv“ kenne. Ich war verwirrt und fragte zurück, warum sie ausgerechnet dieses eine Wort herauspicken müsse, um zu erfragen, wann und wo ich es zum ersten Mal gehört oder gelesen hätte. Ich wollte wissen, ob „objektiv“ ein besonderes Wort sei, eines, dessen Gebrauch nicht so selbstverständlich war wie der Gebrauch anderer Wörter. Die Erzieherin beantwortete meine Frage nicht, sondern wiederholte nur: „Gelesen? Wie meinst du das, kannst du etwa schon lesen?“ Wieder eine merkwürdige Frage, ich erinnere mich genau, dass meine Verwirrung wuchs. Warum stellten die Leute immer solche Fragen? Natürlich konnte ich lesen, ich hatte doch schon ein paar Jahre Zeit gehabt, es zu lernen. Ich war doch schließlich ein Fortgeschrittener, meinem Alter entsprechend! Abends rief die Leiterin der Spielgruppe meine Eltern an und schlug vor, mich auf Hochbegabung testen zu lassen.

Ich weiß nicht, ob ich jemals komplett begriffen habe, dass „fortgeschritten“ nicht eine Bezeichnung für den Normalfall ist, sondern für Ausnahmen. Bis heute habe ich Probleme mit diesem Wort. „Spanisch für Fortgeschrittene“ ist eine Bezeichnung, die ich logisch finde: Du belegst einen Spanischkurs, hörst nach den ersten Wochen nicht gleich wieder auf damit, sondern machst einfach weiter, und dann bist du im Fortgeschrittenenkurs. Da ist alles klar. Aber wenn man sagt: „Er ist für sein Alter fortgeschritten“, dann meint man damit nicht, dass jemand in seinem Leben immer einfach weiter gegangen ist, also im übertragenen Sinne der geistigen Entwicklung, und dass man dieses Verhalten als normal anerkennt. Nein, in diesem Fall drückt man auf einmal Erstaunen darüber aus, dass die Person nicht einfach stehen geblieben ist, aufgehört hat, über Dinge nachzudenken, Verbindungen herzustellen, nach Ursachen zu suchen. Man ist verblüfft und findet es erwähnenswert, dass jemand weiter macht mit dem Verstehen. Mir hat dieses Konzept niemals eingeleuchtet.

Ich kam dann auf eine Schule, in der angeblich Hochbegabte unterrichtet wurden. Aber weder meine Mitschüler, noch unsere Lehrer wussten tatsächlich irgendwas. Es passierte häufig, dass einer meiner Mitschüler eine Frage stellte, die so lächerlich war, oder eine Antwort gab, die so vollkommen an der Wahrheit vorbeiging, dass ich das alles für einen absichtlichen Witz hielt und darüber laut lachte – manchmal eher aus Höflichkeit als aus echter Belustigung. Schließlich muss man Humorversuche immer anerkennen, selbst wenn sie leicht misslingen. Umso unangenehmer war dann die Erkenntnis, dass es sich nicht um einen Spaß, sondern um ernst gemeinte Dialoge gehandelt hatte. Ich entwickelte mit der Zeit eine Taktik für solche Fälle: Da es mir schwer fiel zu entscheiden, ob eine daneben liegende Äußerung lustig gemeint war oder nicht, ich aber andererseits weder unhöflich sein mochte, noch den Witz der Situation überhören konnte (und dies führte unweigerlich zu einem impulsiven Lachen), entschied ich mich dafür, dann immer aus dem Fenster zu schauen oder - falls das nicht möglich war – beim Lachen die Augen zu schließen. Dann konnte ich, wenn niemand in mein Lachen einfiel, vorgeben, in eigene Gedanken vertieft gewesen zu sein und mich entschuldigen. Lachten andere mit, dann fielen meine geschlossenen Augen gar nicht auf. Der einzige Nachteil dieser Taktik war, dass ich bald schon den Ruf eines Menschen erworben hatte, der sich immer in seiner eigenen Gedankenwelt aufhält. Aber damit konnte ich gut leben, wahrscheinlich auch deshalb, weil es häufig tatsächlich zutraf.

Die Schule lief für mich immer nebenher. Mein eigentliches Interesse galt Themen, die ich mir durch Bücher, Filme, Recherchen jeder Art selbst erschloss. Dabei stand für mich stets die Frage im Vordergrund, welche auf den ersten Blick nicht erkennbaren Muster existieren, die erklären, warum Dinge so geschehen, wie sie geschehen. Zum Beispiel in dem langen Prozess des Aufbaus, der Verteidigung und des Niedergangs von großen Reichsgebilden, die es im Laufe der Geschichte immer und überall gegeben hat. Es kam mir immer lächerlich vor, deren Schicksal an einzelne Herrscher, Kriegsherren, an Machtkämpfe zwischen Kirche und Staat, oder an Schlachten zu knüpfen. Natürlich geht es immer und überall um Macht, aber das ist so primitiv, als wolle man sagen, im Leben der Menschen gehe es fortwährend um den Versuch, weiter zu atmen. Das stimmt, aber es ist ohne jede Relevanz für die Frage, warum dem einen etwas gelingt und dem anderen nicht. Ich las also alles, was ich finden konnte: über das Reich der Pharaonen, die Königreiche der Azteken und der Inkas, das alte Rom, das Heilige Römische Reich deutscher Nation. Ich sah Filme, belegte offene Kurse, studierte Quellen mithilfe von Übersetzungen, stöberte nach Hausarbeiten, Dissertationen und aussagekräftigen Artikeln in einschlägigen Journals. Es war fantastisch, diese ganzen unzähligen Details zu sichten und zu sammeln, Kategorien zu bilden, scheinbar Unzusammenhängendes in Verbindung zu bringen und tausende von kleinen Impulsen zu bündeln, um die große Wirkung sichtbar werden zu lassen.

Ein anderes Thema, das mich einige Zeit begeisterte und forderte, führte mich dazu, mir eine Fernsehserie nach der anderen anzusehen. Dabei beschränkte ich mich nicht auf ein bestimmtes Genre. Ich konsumierte alles: grausame norwegische oder schwedische Krimis, US-amerikanische Sequels über Politik, berufstätige Frauen in Großstädten, nicht-berufstätige Frauen am Rande von Großstädten oder Polizisten, die seltsam-mystische Verbrechen aufzuklären und zugleich ihre persönlichen Dämonen zu bekämpfen hatten. Ich sah Serien, die mitten in unserer Gesellschaft spielten, aber auch Geschichten, die von einer Parallelwelt, die wir nur erahnen, erzählten. Einige Filme spielten zu Anfang oder in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, blickten aber mit dem Wissen des Jahres 2016 auf Menschen und Dinge.

Worum es mir dabei ging, war das Grundthema einer jeden Serie. Nachdem ich House of Cards gesehen hatte, wollte ich herausfinden, aus wie vielen - und aus welchen - Materialien der Stoff der Erzählungen gewoben ist. Wie viele Themen berühren uns so, dass wir daraus Geschichten schaffen, die auch die nächste Generation interessieren? Denn das ist es doch letztlich: die Lagerfeuergeschichten, die die Stammesältesten weitergaben, das sind heute die Filme, die auf den Bildschirmen von Fernsehgeräten, PCs und Tablets laufen. Natürlich schlachtet die Unterhaltungsindustrie das Grundbedürfnis von uns Menschen aus, die Sicht der Alten und Weisen zu erfahren auf das, was das Leben ausmacht. Aber das, so war meine These, müsste doch umso mehr die ganze Bandbreite der Inhalte offenbaren, die wir selbst als die wesentlichen betrachten. Mein Anliegen war es, in den Serien genau das zu identifizierten: die Essenz dessen, was uns in unseren eigenen Augen zu Menschen macht.

Um es kurz zu machen: Ich kam bitter enttäuscht aus diesem Experiment heraus. Muster in Serien zu erkennen, mag anfänglich schwierig oder anspruchsvoll erscheinen. Sehr schnell aber merkt man, dass es immer einfacher wird. Nach drei oder vier Serien war ich so weit, dass ich meist schon in der ersten Folge das Grundthema der ganzen Serie entdecken konnte -, auch, wenn die Serien, oberflächlich betrachtet, ganz unterschiedlich waren. Natürlich gab es, je nachdem, wo und zu welcher Zeit eine Serie produziert wurde, andere Muster zu entdecken. Eine schwedische Serie folgt meist anderen Gesetzen als ein Produkt aus Hollywood, und Geschichten, die für einen bestimmten – privaten – Kanal geschrieben werden, enthalten eine Erzähllogik, die einem besonderen Publikum geschuldet ist. Auch führt der Titel oft in die Irre, und es werden natürlich jede Menge falsche Fährten gelegt, damit es für die Zuschauer nicht so langweilig wird. Bei „True Detectives“ geht es beispielsweise nicht wirklich um die Frage, was einen guten Polizisten, einen Polizisten aus Berufung, ausmacht. Es geht im Kern um Freundschaft, und zwar um Freundschaft unter Männern. In gewisser Weise geht es also doch um ein Stereotyp von Polizisten: nämlich um unbedingte Loyalität unter Kollegen, auch wenn man die Loyalität nicht immer gleich als solche erkennt. Also kam ich enttäuscht aus meiner Suche nach Themen der Menschheit hervorkam. Das liegt daran, dass es letztlich nur so wenige Themen gibt. Freundschaft versus Macht, Selbstbehauptung auf der einen, soziale Orientierung auf der anderen Seite: Ich, du oder wir – darauf läuft es eigentlich hinaus. Und das fand ich entsetzlich ernüchternd und beängstigend. Es musste doch noch andere Anliegen geben. Wir Menschen konnten doch nicht nur damit befasst sein, uns selbst zu behaupten, unseren Raum – unser Revier – abzustecken und zu verteidigen, und dann zu entscheiden, wen wir wie nah und für wie lange an uns heranließen, ohne den eigenen Gestaltungsspielraum preiszugeben. Das war alles so vorhersehbar, und absolut übertragbar auf die Wesen, die sich sonst noch in der Natur tummelten. Ganz gleich, wohin ich blickte, sah ich identische Kämpfe stattfinden: Bäume wuchsen und mussten entscheiden, ob sie mit ihren Nachbarn gemeinsam einen Weg finden konnten, den Platz für ausladendes Geäst in den Kronen zu erstreiten, oder ob sie sich als Einzelgänger behaupten wollten. Wölfe, Löwenmännchen, Elefanten, Hirsche - alle kämpften um ihre Rechte: um einen angemessenen Platz in der Rangordnung von Gruppen, um die Herrschaft über ein Gebiet, oder um die Gelegenheit, sich fortzupflanzen. Waren wir doch nur aufrecht gehende Tiere, den gleichen ewigen Kämpfen unterworfen wie alle anderen?

Die Frage blieb: während meines Studiums der Philosophie, der alten Sprachen und der Geschichtswissenschaft. Eine richtige Antwort fand ich nicht. Trotzdem waren die Jahre bis zu meiner Promotion anregend und erfüllend: endlich konnte ich den ganzen Tag lang lernen, lesen, mit Menschen sprechen, die sich ebenfalls für die Themen interessierten, die mich faszinierten. Ich promovierte in München, ging dann für zwei Jahre nach England. Diese ganze Zeit kommt mir im Rückblick vor wie eine leichte und luftige Episode aus einem Film, die aber – aus Gründen der Filmkunst – nur im Zeitraffer gezeigt wird. Die Stimmung wird dem Zuschauer vermittelt, aber Einzelheiten ausgespart. Jedenfalls war ich glücklich, soweit man von Glück im Leben eines Menschen überhaupt sprechen kann.

Es war in meinem zweiten Jahr als Juniorprofessor für Philosophie an der Universität Göttingen, als ich begann, mich unwohl zu fühlen. Das erste Mal wurde ich mir dessen bewusst, als ich an jenem schönen Frühlingstag Anfang März mit dem Rad zur Arbeit an der Uni fuhr. Es war auf einmal sehr warm geworden, so wie das manchmal im März ist, bevor dann noch einmal der Winter zurückkehrt. Göttingens Straßen waren bevölkert mit Studenten und Studentinnen, die in Shorts oder kurzen Röcken unterwegs waren, die Arme glücklich der Sonne entgegengestreckt, das Gesicht genießerisch nach oben gewandt. Auch ich atmete zufrieden die warme Luft ein und zog mir während des Fahrens den Schal vom Hals. An einer roten Ampel wartete ich, als mir der Fahrer im BMW neben mir auffiel. Es war ein sehr alter Mann, sicherlich um die neunzig Jahre alt, der das Lenkrad mit beiden Händen umklammert hielt. Er trug ein edel wirkendes, dunkelrotes Hemd und um den Hals einen dünnen Seidenschal. Er sah nicht so aus, als sei ihm warm in der Frühlingssonne. Er wirkte angespannt und nervös. Dann sprang die Ampel auf Gelb um, und der alte Herr griff nach dem Schaltknüppel. Es gelang ihm aber nicht, in den ersten Gang zu schalten: er fuhrwerkte wild herum, ließ dann wohl unwillkürlich die Kupplung kommen – und stotternd verstummte der Motor. Als das Hupkonzert hinter seinem Wagen begann, war ich schon über die Kreuzung gefahren, die Straße stieg hier leicht an und ich musste in die Pedale treten. Aber der Gegensatz zwischen dem teuren Wagen, der exquisiten Kleidung des Mannes und seiner – wohl altersbedingten – Hilflosigkeit als Fahrer ging mir aus irgendeinem Grund nicht aus dem Kopf.

An diesem Tag meinte ich in der Uni überall Menschen in einem Kampf gegen den Verfall zu entdecken. Mit meiner Kollegin vom Lehrstuhl, einer Frau mit langem, rabenschwarzem Haar, die gerade einen renommierten Preis erhalten hatte, überquerte ich den Hof unseres Instituts. Wir unterhielten uns über einen auffallend begabten Studenten, als mein Handy klingelte. Es war ein Journalist der Unizeitung, der um ein Interview zu der neuen Ausstellung bat, in die wir ein virtuelles Element integriert hatten: „Ein Tag mit Sokrates, unterwegs im Gespräch mit Ihnen!“, hieß es. Während ich noch über einen Termin sprach, bemerkte ich aus den Augenwinkeln, wie sich meine Kollegin der Glasfront der Fensterreihe zuwandte, an der wir soeben vorbeiliefen. Sie warf ihrem Spiegelbild einen Blick zu. Ich sah sie da im Fenster, auf die die Sonne schien, mich mit dem Handy am Ohr dahinter. Meine schöne, von mir bewunderte Kollegin, klug, interessant, - und, wie ich auf einmal erkannte, eitel und narzisstisch. Ihre Augen blickten so scharf und kritisch auf ihr Erscheinungsbild, wie sie sonst auf Schriften gerichtet waren, die sie las. Sie biss sich auf die Lippen, wohl um die Durchblutung anzuregen, berührte ihr Haar am Ansatz, das, wie mir auf einmal bewusst wurde, möglicherweise gefärbt war. Ich sah in den Fensterspiegel und sah eine Frau, die sich schön fand, der es wichtig war, dass auch andere sie schön fanden. Sie würde noch viele gute Artikel schreiben und Projekte auf den Weg bringen, Studenten begeistern, mit Kollegen ausgehen und sie betören – und dann würde sie älter werden, sich weniger zufrieden mit sich selbst fühlen. Was bliebe dann? Der Kampf um die Bedürfnislosigkeit, wie ihre Geistesgenossen der Stoa? Sie würde, wie alle Akademiker, häufig umziehen. Würde sie ihr Glück als Kosmopolitin, in dem Bewusstsein einer transzendentalen Obdachlosigkeit finden? Sie wandte sich mir wieder zu und lächelte, und zum ersten Mal bemerkte ich die gelbliche Verfärbung ihrer Zähne. Ich sah schnell weg.

Später kam mir mein Lieblingsstudent entgegen, Mario. Er war so wissbegierig, war immer auf der Suche nach Quellen, nach neuen Interpretationsansätzen. Wie ich suchte er nach Verknüpfungen und Mustern. Ich freute mich immer auf Gespräche mit ihm. Doch heute sah ich ihn an, während er mich begrüßte und sogleich von einer neuen Idee anfing zu erzählen, die er bei der Lektüre eines Buches über Fragen des Existenzialismus gehabt hatte, geschrieben von einem tschechischen Philosophen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, der zu Recht unbekannt war. Ich sah Mario an, und über seine mir gut bekannten Züge schob sich das Gesicht eines anderen Mannes, der viel älter war, der verbissen und enttäuscht aussah. Es war das Gesicht von Mario, wie er in dreißig oder vierzig Jahren aussehen würde.

Wie gesagt, an jenem Tag begann dieses Gefühl des Unwohlseins. Die Welt schien mir auf einmal voll zu sein von Gestalten des Typs Sisyphos. Den Dekan stellte ich mir während eines festlichen Empfangs als entthronten König vor, der noch nicht mitbekommen hat, dass er keine Krone mehr trägt, und der den Stein, den er von nun an auf ewig schleppen, verlieren und wieder neu finden muss, noch glücklich wie einen Schatz in der Hand hält. (Eigentlich war es nur sein Weinglas, mit dem er der Präsidentin zuprostete.) Studentengruppen trugen ihre Smartphones brav von Seminarraum zu Seminarraum, von der Bibliothek zu ihren WG-Zimmern, von der Mensa zur Cafeteria – und merkten nicht, dass sie Gefangene ihrer Gruppen und Nachrichten waren, die abends dieselben Unterhaltungen auf What´s App durchblätterten, die sie morgens schon gelesen hatten.

Und dann erst die übrigen Menschen! Bauarbeiter trotteten, Helme in der Hand, zu sinnlosen Baustellen, die auch nach Fertigstellung die Welt nicht verschönern würden. Ladenbesitzer schlossen morgens die Tore ihrer Geschäfte mit kritischem Blick auf und abends mit misstrauischer Miene wieder zu. Meine Nachbarin schien ständig schwere Einkaufstüten die Treppe hinaufzutragen. Sie begegnete mir jedes Mal, wenn ich das Haus verließ. Sie musste schon Wagenladungen an Essen in ihrer Küche, nein, in sämtlichen Zimmern aufgetürmt haben. Oder ich stellte mir vor, wie sie die großen, braunen Papiertüten immer sogleich oben aus dem Fenster in den Hinterhof entlud, dann nach unten ging, zwischen den Tonnen umherkroch und die zerbrochenen, zerkrümelten, zerplatzen und zerfließenden Bestandteile wieder aufsammelte, halbwegs ordnete, erneut in die Tüten füllte und wieder nach oben brachte.

Es gab dann Tage, ja sogar Wochen, die ganz anders waren, normal. In diesen Zeiten konnte ich arbeiten und meinen üblichen Aufgaben und Aktivitäten nachgehen, ohne ständig verstört zu sein, und ohne dass Bilder von schweißtreibender, aber vergeblicher menschlicher Mühe mein Gehirn durchfluteten.

Das Problem war, dass ich diese ganzen Erscheinungen, während ich sie über mich ergehen lassen musste, zugleich fast gnadenlos analysierte. Ich realisierte, dass mich die große Frage nach der Sinnhaftigkeit meines eigenen Lebens, meiner ganz persönlichen menschlichen Existenz, antrieb. Der Fokus auf das Streben und das Vergehen der Anstrengungen anderer Menschen entsprang wahrscheinlich einer Abwehrhaltung. Ausgelöst hatte meine Sinnkrise möglicherweise das Gespräch mit Saideh über den Wunsch von Menschen und Gesellschaften nach Nützlichkeit und die Unsicherheit bezüglich der Annahme, dass der Zustand einer Bedürfnislosigkeit tatsächlich herstellbar war – geschweige denn erstrebenswert.

Ich verstand diesen psychologischen Hintergrund, diese existentiellen Fragen. Irgendwo in tieferen Schichten meines Bewusstseins wusste ich auch um die größere Frage: Warum war die Sinnsuche jetzt auf einmal zu einem, zu meinem Thema geworden? Ich war noch keine dreißig Jahre alt und eigentlich zufrieden, oder? Aber ich vermied es, diesem unbestimmten Gefühl, dieser vagen Idee einer Frage konkret und spezifisch Form zu verleihen. Ich weigerte mich, den entscheidenden Satz zu formulieren.

Ich überlegte, ob ich vielleicht doch einfach nur an einem grippalen Infekt litt.

An einem Wochenende im April rief ich meine gute Bekannte Saideh an, die ich während meines Studiums in einem Kochkurs für persisches Essen kennen gelernt hatte. (Saideh kam aus dem Iran.)

„Hallo, ich bin´s, T.M.“ (Die meisten Leute nannten mich so, nach meinen beiden Vornamen. Mir gefiel das, es klang zugewandt und unverbindlich zugleich. Eine fantastische Erfindung von den Amerikanern, die ja selbst Meister der zugewandten Unverbindlichkeit sind.)

Klang meine Stimme normal? Wenn nicht, dann konnte das ja schließlich auch an dem kalten Herbst liegen, in dem wir uns mittlerweile befanden.

„Ach, T.M., du bist es? Lange nichts gehört. War das letzte Mal nicht sogar Neujahr, als wir gesprochen haben?“

„Ja, das kann sein. Wie geht es dir?“

Es entstand eine Pause. Offensichtlich überlegte Saideh, was sie mir sagen sollte – oder wie sie mir etwas sagen sollte. Rasend schnell schossen verschiedene Möglichkeiten durch meinen Kopf. War sie vielleicht schwanger? Hatte ihr Mann Paul die Stelle verloren? Gab es ein Problem mit ihrer etwas unsteten Schwester Maryam?

„Es gibt ein Problem mit Maryam.“ Ich war ganz kurz unsicher, ob das nur ein Widerhall meines Gedankens gewesen war. Aber nein, Saideh sprach schon weiter:

„Sie hat einen Mann kennen gelernt, der alles andere als mein Typ ist.“

Ich wies sie – zu Recht – darauf hin, dass das doch auch nicht erforderlich sein, aber Saideh erklärte, sie meine damit, der neue Mann sei auch kein Typ für ihre Schwester.

„Inwiefern?“, fragte ich.

„Ach, er ist ganz einfach unerträglich!“, platzte Saideh heraus. „Und ich weiß auch gar nicht, was er an ihr findet.“

Sie stockte kurz, dann lachte sie mit nur einer Spur ihrer gewöhnlichen Unbekümmertheit. „Das klang jetzt gerade viel unfreundlicher, als ich es meinte. Ich finde einfach, dass die beiden überhaupt nicht zusammenpassen. Du kannst ihn demnächst kennen lernen, ich lade dich zum Essen ein. Dann sehe ich dich auch endlich noch mal. Du machst dich ganz schön rar in letzter Zeit.“

Danach legte sie ziemlich schnell auf.

Ich wusste nicht richtig, was ich davon halten sollte. Die Situationen, die ich nicht verstehe, bereiten mir Unruhe. Ich beschloss, schwimmen zu gehen. Ich packte meine Schwimmsachen ein, schwang mich auf mein Rad und fuhr durch den kalten, nieselgrauen Tag zum Hallenbad. Menschen, die ich unterwegs sah, beachtete ich nicht weiter. Ich parkte mein Rad unmittelbar vor dem Eingang. Dann zahlte ich meinen Eintritt, zog mich schnell und ohne nach links und rechts zu sehen um, und lief in die Schwimmhalle. Der Chlorgeruch tat gut. Es waren nicht viele Besucher hier, aber eine Bande von Teenagern machte ziemlichen Krach. Ich sprang vom Rand ins Becken, obwohl man das hier nicht gern sah. Dann war ich im Wasser. Die Welt verschwand, als ich tauchte und mit kraftvollen Zügen nach vorn schwamm. Der Lärm der anderen Badegäste war hier unter Wasser nicht zu hören. Das Licht drang nur gedämpft zu mir.

Ich schwamm mehrere Tausend Meter. Es tat einfach zu gut, Zug für Zug durchzuziehen, Bahn für Bahn zurückzulegen. Meine verkrampften Muskeln entspannten sich. Ich wurde ruhig, und mein Kopf wurde wieder klar. Endlich fühlte ich mich wieder wie ich selbst.

Am folgenden Wochenende war ich bei Saideh eingeladen zum Abendessen. Ich sollte dabei auch Maryams Verlobten kennen lernen, Daniel. Ich kam etwas zu spät. Das lag daran, dass ich unmittelbar vorher wieder einmal schwimmen gewesen war und dabei die Zeit aus den Augen verloren hatte. Als ich mich mit einer freundlichen Entschuldigung neben Saideh an den letzten freien Platz am deckten Tisch setzte – einem sehr schön gedeckten Tisch, ganz in Rosa und Weiß - , bemerkte mein Gegenüber lachend: „Als Philosoph hat man Höheres zu bedenken als die profane Pünktlichkeit, nicht wahr?“ Ich blickte irritiert auf. „Sie sind sicher Daniel?“, fragte ich, „so ähnlich hatte ich Sie mir vorgestellt.“ Daniel nickte. „Die Welt als Wille und Vorstellung, nicht wahr?“, bemerkte er stolz. Innerlich stöhnend, lächelte ich unverbindlich und nahm den Mann in Augenschein. Daniel war ein großer, hagerer Mensch mit wenigen Haaren – letzteres schien aber weniger mit seinem Alter zu tun zu haben, als vielmehr mit einer generellen Veranlagung. Sicher hatte er auch mit zwanzig keine Mähne gehabt. Seine kleinen Augen funkelten vergnügt hinter der Brille, aber er sah nicht eigentlich humorvoll aus. Wahrscheinlich lachte er nur über seine eigenen Witze. Er trug ein kurzärmeliges T-Shirt, das seine dünnen Arme betonte. Er sah aus, als sei er magersüchtig. Zusammen mit seinen schlauen Bemerkungen zur Philosophie war er nicht gerade der Typ, mit dem ich mir einen schönen Abend vorstellen konnte.

Schweigend nahm ich mir von dem köstlich duftenden Auflauf, den Saidehs Mann zubereitet hatte. Ich beschloss, das Essen zu genießen, nach Möglichkeit Maryam allein reden zu lassen, um durch eigene Bemerkungen nicht noch größere Weisheiten von Daniel zu provozieren, und mich dann früh zu verabschieden. Als ich aufblickte, traf mein Blick den von Saideh. Sie runzelte die Stirn. Natürlich wusste sie, was ich dachte.

Der Abend wurde lang, lang und mühselig. Für Daniel war ich der Philosoph: skurril und verschroben, aber dank seiner – also Daniels – Weltläufigkeit und Belesenheit „kein Problem“. Ich nahm mir zum zweiten Mal von dem Beilagensalat, den ich wegen der würzigen Sauce sehr mochte, - und schon war ich der „große Denker, der die leichte Kost schätzt, nicht wahr?“ Kam die Rede auf das politische Geschehen und äußerte ich Bedenken gegenüber dem amtierenden Bürgermeister, der den Kulturetat der Stadt kürzen wollte, so pflichtete Daniel mir bei: „Ganz recht, in Zeiten der Not frisst der Teufel Fliegen – aber so weit sind wir noch nicht, und da braucht man die Zunft der Geister!“ Ich ließ beinahe mein Glas fallen – die Zunft der Geister! Eine Schar von tanzenden Nachthemdgestalten zog vor meinem inneren Auge vorbei, mit Hammer und Zange, Nadel und Faden, wie die Heinzelmännchen von Köln anzusehen.

Daniel aß fast nichts – also doch magersüchtig! -, trank dafür aber viel, und gab zu allem und jedem seinen Kommentar ab. Ich war der Intellektuelle (obwohl das aus seinem Munde nicht wie ein Kompliment klang), nicht ganz aus dieser Welt, aber unter toleranten Menschen – solchen wie Daniel – selbstverständlich gern geduldet. Maryam war eine verquasselte „echte Frau“: mit Marotten, die ein überlegener Mann gern sieht, denn etwas verspielt ist doch wirklich charmant, nicht wahr? Saideh war einfach „die Schwester“, damit war alles gesagt. Der Bürgermeister war ein ahnungsloser „Zugewanderter“ (er kam aus Kassel). Die Göttinger Polizei war, wie ihre unangemessene Reaktion auf einen Protest von Bürgern gegen die geplanten neuen Windkraftanlagen deutlich bewiesen hatte, leider „komplett überfordert, und zwar auf der ganzen Linie“. Und so weiter und so fort. Wie wunderbar einfach musste die Welt für Daniel sein! Alles war so klar und offensichtlich. Zweifel, Bedenken, tiefere Einsicht oder auch nur Fragen hatten sicherlich keinen störenden Einfluss auf sein Leben.

Trotz Saidehs lockendem Angebot, zum Kaffee im Wintergarten noch von einer neuen selbstgemachten Eissorte zu kosten (das war ihre Leidenschaft – sie kreierte immer wieder erstaunliche und unglaublich köstliche neue Geschmacksrichtungen), verabschiedete ich mich gleich nach dem Essen. Ich erklärte noch an einem Artikel schreiben zu wollen.

Auf dem Rückweg nach Hause nieselte es. Ich ging schnell, der Sinn stand mir nicht nach besinnlichem Schlendern. Auf dem Bahnhofsvorplatz, wo ich in meinen Bus einsteigen wollte, hingen die üblichen Gestalten herum. Eine Gruppe von vier oder fünf Studenten nervten mich besonders. Sie hatten offensichtlich einiges getrunken. Eine Studentin, die ein unauffälliges Gesicht und mausige Haare hatte, tönte besonders laut ihre Erkenntnisse in die Welt. „Kapitalismus kommt von Kapital, daran sieht man ja schon, dass sich hier alles nur um Geld dreht“, erklärte sie in der unscharfen Sprache derer, die ihre Zunge nicht mehr richtig kontrollieren können. Die anderen lachten etwas zu lange. Es mussten Erstsemestler sein. Ab dem zweiten Semester kommt man selbst unter Drogeneinfluss mit so banalen Aussagen nicht mehr durch. Oder etwa doch? Mir fiel meine schöne Kollegin mit dem schwarzen Haar ein. Hatte sie nicht erst letzte Woche Aufmerksamkeit erregt – bewundernde Aufmerksamkeit! – mit dem Satz: „Intelligente Städte bestehen nicht nur aus digitalen Parkplätzen, sondern vor allem aus klugen Bürgerinnen und Bürgern!“ Dieser Satz war die Einleitung zu einem Beitrag, den sie auf ihren Blog gestellt hatte, und er war schnell durch die gesamte Universität gegangen. Tausende von Jahren Forschung, und das war das Ergebnis. Platon hatte sich Atome als Grundlage aller Materie vorgestellt. Zweitausendfünfhundert Jahre später raunten wir ehrfürchtig angesichts des „Mutes einer Philosophie“ (so ein wortgewandter Journalist), die – wie die alte Großmutter aus den Märchen – warnend den Finger hob und krächzte: „Menschen sind schlauer als die Dinge!“

In jener Nacht arbeitete ich. Der Artikel über Freiheit und Zwang, den ich in nur wenigen Wochen fertig stellte, wurde von dem renommiertesten amerikanischen Journal für Philosophie angenommen. Ein Jahr später erhielt ich einen Ruf an die Yale University.

Bereits wenige Wochen nach meinem Umzug nach New Haven saß ich in dem kleinen, etwas schäbigen Wartezimmer der psychotherapeutischen Praxis von Dr. Whitman. Ich war nicht etwa freiwillig hier: Die Sitzungen waren obligatorisch. Die Präsidentin unseres Instituts glaubte fest an die reinigende Kraft der Psychotherapie. Die Auflage, in zehn Sitzungen eine Selbstpositionierung mit dem renommierten Dr. Whitman vornehmen zu müssen, hatte mich fast dazu gebracht, den Ruf abzulehnen. Doch die Arbeit hier, die finanziellen und persönlichen Freiheiten, die damit verknüpft waren, hatten mich bewogen, dieser Psychohygiene-Therapie zuzustimmen. Ich hatte schon andere soziale Verpflichtungen überlebt.

F R E U D was always right – except when he was wrong.

Ich starrte auf diesen Satz, der in großen, bunten, ausgeschnittenen Buchstaben die Wand des Wartezimmers schmückte. Die Buchstaben sahen aus wie von Kindergartenkindern produziert. Ebenso tiefsinnig kam er mir vor. Sicher war er zur Einstimmung der Patienten gedacht, die hier auf ihre Sitzung mit dem Psychotherapeuten warteten. „Niemand ist perfekt, und das ist auch gut so“, - hatte das nicht mal ein schwuler Bürgermeister gesagt? Nein, das war anders gewesen: „Ich bin schwul, und das ist auch gut so“, das war der Satz gewesen. Deutlich interessanter, diese Aussage, als der Witz über Freud. Seine eigene Veranlagung bockig der Welt entgegenzustellen, das hatte mehr Verve als diese kumpelhafte Selbstkritik eines Berufsstandes sich selbst gegenüber.

Ich gebe zu: ich habe Probleme mit Psychotherapeuten, vor allem mit den selbsterklärten „Menschenkennern“, den Vollzeitexperten. Sie laufen durch die Welt und begegnen ständig potentiellen Patienten. Ihre umfassenden Kenntnisse befähigen sie, Situationen und Menschen jederzeit und sofort schnell und sicher zu verstehen. Sie können rasch Bewertungen abgeben, zu denen andere deutlich mehr Informationen benötigen würden, und sie beeindrucken durch die Eindeutigkeit und Schlichtheit ihrer Argumentation. Gern treffen sie auch Aussagen, die sie nicht beweisen können, die aber so einfach und einleuchtend sind, dass sie ganz sicher stimmen müssen. Einmal hörte ich ein kurzes Gespräch zwischen einem Psychologieprofessor und seiner Doktorandin. Die Doktorandin erzählte von einem Seminar, zu dem die Dozentin ihre zwei kleinen Kinder mitgebracht hatte, weil sie an jenem Nachmittag keine Betreuung gefunden hatte. Der Professor fragte: „Waren die Kinder denn ruhig?“ Die Studentin meinte, es sei eigentlich gut gegangen, die Kinder hätten ganz brav dagesessen. Woraufhin der Experte sein Wissen in einem Satz zusammenfasste: „Die Kinder müssen ja auch still und brav sein, sonst haben sie es sich mit der arbeitenden Mutter verscherzt.“ Ach so, alles klar.

Von einer Psychotherapeutin habe ich übrigens einmal den wunderbar einleuchtenden Satz gelesen: „Frauen, die Schmuck tragen, sind auf der Suche nach einem Sexualpartner.“ Auch wieder so eine eindeutig wahre Aussage.

Ich bin übrigens ganz sicher, dass ein Psychologe dieser Art meine Bemerkungen hier sofort als Ausdruck meiner ausgeprägten Verdrängungssysteme diagnostizieren würde. Meine Abneigung gegen Argumentationsketten, die unschlüssig oder zu stark verallgemeinernd sind, kennzeichnen mich wahrscheinlich als zwanghafte Persönlichkeit („Immer nach Beweisen zu suchen, ist ebenso eine Störung wie das mehrfache Überprüfen, ob der Wasserhahn zugedreht ist!“) Die Tatsache, dass ich mich über zu schlichte Wahrheiten aufrege, weisen auf starken Widerstand hin. Ich kenne diese Einwände gut: das System der unbewussten Motive ist in sich geschlossen und wird nur durch Widerspenstigkeit durchbrochen!

Die Tür an der Wand mit dem lustigen Freud-Zitat öffnete sich, und der kleine, schlanke Dr. Whitman schaute wie ein Kuckuck aus der Schwarzwälder Uhr heraus. „Give me five minutes to get ready for you, okay?“, fragte er und bleckte seine sehr weißen, sehr sauberen amerikanischen Zähne. Dann verschwand er wieder wie der Geist in der Flasche, ohne meine Antwort abzuwarten.

Ich überlegte, ob ich, wenn Dr. Whitman wieder auftauchen würde, ihn bitten sollte, ebenfalls noch ein paar Minuten zu warten. „I need to prepare mentally, can I have five minutes before we start, please?“ Wahrscheinlich würde Dr. Whitman sogar zustimmen und sich freuen. Der letzte Widerstand ist gebrochen! Der Patient will sich geistig einstimmen! Das ist ein großer Schritt zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit!

Die Minuten vergingen, während ich auf Dr. Whitman wartete. Es war sehr still hier. Die Praxis lag zwar direkt an einer großen und verkehrsrechen Straße, aber man hörte kaum etwas durch die geschlossenen Fenster. Allerdings lag, wie ich mit der Zeit feststellte, ein gleichmäßiges, schwirrendes Geräusch in der Luft. Das musste die Klimaanlage sein. Merkwürdig, wie lange Dr. Whitman sich auf mich vorbereitete. Ich warf einen Blick auf meine Handyuhr: bereits 12 Minuten waren vergangen. Ich schloss die Augen und dachte an meinen Gesprächskreis morgen. Seitdem ich in Yale arbeitete, traf ich mich alle paar Wochen mit Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Fachbereichen, und wir diskutierten über Anpassung und Abgrenzung. Wann wurde individuelle Selbstbestimmung zu einem Zwang und verhinderte ein authentisches Miteinander in der Gruppe? Oder umgekehrt: Wie viel Anpassung war nötig, und ab welchem Punkt überschritt man die Grenze zur totalen Selbstauflösung? Ich hatte zugesagt, für unser nächstes Treffen einen Überblick über die Aussagen verschiedener deutschsprachiger Philosophen hierzu zu geben. Eine weniger bekannte Schrift von Hannah Arendt lag zu Hause auf meinem Schreibtisch.

Irgendetwas stimmte nicht. Mehr als eine halbe Stunde war vergangen, seitdem Dr. Whitman kurz zu mir ins Wartezimmer geschaut hatte. Heute war meine dritte Sitzung bei Dr. Whitman. Das letzte Mal hatte er, nach einer anstrengend-banalen Diskussion über meine Erlebnisse im Kindergarten, glücklich verkündet: „You know, this is important stuff. What you have just told me -that´s something. It really is. I know it´s not easy for you. You are a fighter – I am proud of you!” Gerade hatte ich ihm berichtet, dass ich mich nicht erinnern konnte, was ich in der Spielgruppe am liebsten getan hatte. Wahrscheinlich gelesen, oder? Ich wusste es einfach nicht mehr. Das regte Dr. Whitman ungemein an. Er witterte tief Verborgenes, Tabuisiertes. Ich hatte angesichts seiner Erregung nicht widerstehen können zu fragen: „So what are your forgotten secrets, Dr. Whitman?“ Er hatte gut reagiert: gelacht und bestätigt, ich sei echt ein Kämpfer. „And a joker as well!“

Für heute hatte ich mir eine andere Taktik zurechtgelegt. Ich wollte mit ihm über die Sehnsucht der Amerikaner nach Kausalitätszusammenhängen sprechen – ein wirklich interessantes Thema über die Psychologie einer Gesellschaft. Mein Argument war, dass über die gesellschaftlichen Wünsche, Ängste und Pathologien besserer Zugang zu den Motiven, Blockierungen und Impulsen eines Individuums zu erfahren wäre. Hoffentlich würde er das Spiel mitspielen. Dann fiel mir wieder ein, dass es unklar war, ob wir heute überhaupt spielen würden. Dr. Whitman war immer noch nicht da. Was sollte ich tun? Ich überlegte, ob ich einfach gehen sollte. Aber das kam mir doch zu unfreundlich vor. Schließlich erhob ich mich, trat zu der Tür, hinter der sein Büro lag, und klopfte. Niemand antwortete. „Dr. Whitman?“ Nichts. Vorsichtig drückte ich die Klinke nieder. War der kleine Mann über den Notizen zu unserem letzten Gespräch eingeschlafen? Ich öffnete die Tür und spähte in den Raum.

Auf den ersten Blick sah ich nichts Ungewöhnliches. Da war der große, sehr unordentliche Schreibtisch – seine Unordnung hatte dazu beigetragen, dass Dr. Whitman mir sympathisch war. Die zwei abgewetzten Sessel von undefinierbarer Farbe vor dem Fenster. Die schöne, alte Kommode mit den vielen gerahmten Fotos von Dr. Whitmans prominenten Klienten. Aber etwas war merkwürdig. Ich brauchte dreißig Sekunden, bevor ich erkannte, dass es der Geruch war. Es roch nach bitteren Mandeln. „Agatha Christie: Blausäure“, dachte ich und ermahnte mich gleichzeitig, jetzt nicht albern zu sein. Und dann sah ich ihn.

Dr. Whitman lag hinter seinem Schreibtisch, ein Bein ragte am hervor. Als ich um den Tisch herumtrat, sah ich, dass er von seinem Stuhl gefallen sein musste. Er lag verkrümmt da, eine Hand krampfte sich – wie in einer Filmszene – um eine kleine Plastikdose. Der andere Arm lag auf den Rollbeinen seines Schreibtischstuhls, so, als hätte er sich noch einmal dort hochziehen wollen. Sein Gesicht war im Krampf erstarrt, die Lippen blau.

Dr. Whitman war tot.

Später, viel später – genau genommen: sechs Monate nach dem Freitod meines Psychotherapeuten – erzählte ich Saideh von diesem schrecklichen Erlebnis. Sie hatte mich angerufen, um mich zu Maryams Hochzeit einzuladen.

„Das hört sich einfach entsetzlich an“, sagte sie. „Hat man erfahren, warum er sich das Leben genommen hat?“

„Nein, eigentlich nicht“, antwortete ich. „Es gab natürlich Spekulationen, aber richtig aufgeklärt worden ist die Sache nicht. Dr. Whitman war ledig und lebte allein. Er war in vielen Clubs und so aktiv, aber enge Freunde hatte er eigentlich nicht. Niemand weiß genau, was ihn dazu getrieben haben könnte.“

Wir schwiegen. Ich war sicher, dass Maryam den gleichen Gedanken hatte wie ich. Und es stimmte: Mich interessierten die näheren Umstände des Todes von Dr. Whitman nicht. Er lebte nicht mehr, und das allein war wichtig. Meine lange Suche nach Variationen von Mustern in den Geschichten der Menschen schien mir damit auf einmal beendet. Es gab und es gibt ein alles beherrschendes Muster: „To be or not to be.“ Dieses Begreifen einer alten Wahrheit war Dr. Whitmans unbeabsichtigtes Vermächtnis.

„Ich komme zur Hochzeit. Kann ich bei euch wohnen?“, fragte ich unvermittelt. Saideh lachte. „Na klar. Es gibt eine neue Eissorte: Gras.“

Also werde ich nach Göttingen fliegen und Maryam und ihrem Bräutigam gratulieren - ja, auch Daniel wird meine Glückwünsche persönlich empfangen. Ich werde mit Saideh abends im Wintergarten sitzen und Graseis essen. Natürlich werde ich auch weiterhin hier lehren und forschen. Die Wissenschaftswelt wird noch einige Artikel mit meinem Namen erleben.

Geändert hat sich trotzdem einiges: Die merkwürdigen Episoden, in denen mich die Sinnlosigkeit unseres Tuns überfällt, sind verschwunden. Das wurde mir klar, als ich vor wenigen Wochen auf einer Dinnerparty meiner Institutsleiterin war. Dr. Shinn – so heißt sie tatsächlich – unterhielt sich da etwas zu lange und zu intensiv mit mir. Ich hatte sogar das Gefühl, dass sie den Abend am liebsten mit mir allein woanders fortgesetzt hätte. (Sie ist fast dreißig Jahre älter als ich und gehört auch nicht zu den Frauen, die man als „aged in grace“ bezeichnen könnte.) Da sah ich sie plötzlich mit den Augen, mit denen ich in Göttingen schon einmal eine Zeit lang Menschen in all ihrer Pracht und Vergänglichkeit erblickt hatte. So stand Dr. Shinn vor mir: eine ältliche Dame, mit zu scharf rot nachgezeichneten Lippen und einem leicht verzweifelten Ausdruck in den Augen. Doch dann riss ich mich zusammen. Sollte Dr. Shinn doch ihren Champagner trinken und sich kurze Zeit in dem Glauben wiegen, sie könne interessant sein für mich. Ich war ihr ja auch nur aufgefallen, weil ich besser Englisch sprach als mein österreichischer Kollege, und weil ich weniger betrunken war als der Rest der Gesellschaft hier. Warum also kein kleiner Flirt? Solange ich in spätestens einer Stunde nach Hause gehen konnte, um an meinem Artikel weiter zu schreiben, sollte es mir recht sein. Immerhin lebten wir hier alle noch, während der schlanke kleine Dr. Whitman Blausäure geschluckt hatte. „Freud was always right, except when he was wrong.“ Der Spruch war vielleicht doch nicht so schlecht. Ich glaube, wir irren uns ebenso häufig, wie wir Recht haben. Oder umgekehrt.

Über die Frage, was wir wissen oder auch nicht, und über unsere Unfähigkeit, das auszuhalten, werde ich übrigens demnächst einen Artikel herausbringen.


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