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Schuld und Unschuld – ein Reigen in drei Tänzen

Samstag, 11. November 2017

Wer er war, tut nichts zur Sache. Was es über ihn zu wissen gibt, ist schnell gesagt: er war von Beruf Lebenskünstler. Das ist ein Beruf wie jeder andere. Es versteht sich, dass bestimmte Voraussetzungen zu erfüllen sind, will man als Lebenskünstler Erfolge verzeichnen. Vielleicht sollte man von einer Veranlagung sprechen. Es wäre mit großem Aufwand verbunden – wenn auch nicht unmöglich -, sich solchermaßen zu entwickeln, dass man die rechte Kunst des Lebens beherrscht.


1. Tanz: Der Ernst des Lebens

Wer er war, tut nichts zur Sache. Was es über ihn zu wissen gibt, ist schnell gesagt: er war von Beruf Lebenskünstler. Das ist ein Beruf wie jeder andere. Es versteht sich, dass bestimmte Voraussetzungen zu erfüllen sind, will man als Lebenskünstler Erfolge verzeichnen. Vielleicht sollte man von einer Veranlagung sprechen. Es wäre mit großem Aufwand verbunden – wenn auch nicht unmöglich -, sich solchermaßen zu entwickeln, dass man die rechte Kunst des Lebens beherrscht.

Er, von dem hier die Rede ist, zeichnete sich durch verschiedene Neigungen aus, die ihm und seiner Kunst zustattenkamen. Zunächst einmal war er stets erfüllt von überaus starkem Interesse. Welcher Art dieses Interesse sein mochte und worauf es sich beziehe, das war von keinerlei Bedeutung. Er war fortwährend damit beschäftigt und darauf gerichtet, Neues zu erfahren, Unbekanntes zu erleben. Von all dem Kostbaren, das er entdeckt und lieben gelernt, mochte er niemals genug bekommen. Er war auch immerzu bestrebt, seine Entdeckungen, all das Wunderbare und Schöne in seiner Welt, mit anderen Menschen zu teilen. Er fühlte sich erst so recht wohl, wenn er das besondere Büchlein, das ihm so gefallen, seinem Freund anvertrauen durfte. Er war glücklich, wenn er die Musik, die ihm so unwahrscheinlich schön klang, mit einer Versammlung Gleichgesinnter zu genießen vermochte. Das herrlich erfrischende Bad im goldüberfluteten Meer an einem Abend im Sommer wünschte er nicht allein zu begehen. Er wartete, bis andere kamen, und seien es Fremde. Überall fand er Seelenbrüder, die mit ihm Freuden teilen wollten. Er hatte eine Art, sie zu erkennen, so wie Menschen einander erkennen, die wissen, was das bedeutet: beschenkt zu sein.

Er, den ich so lange entbehrt habe, hatte eine eigene Bewertung dessen, was wir gemeinhin als wichtig erachten. Seine Vorstellungen von dem, was es zu erledigen und zu unternehmen galt, wichen nicht selten von denen anderer Menschen ab. Die Mischung der Ziele, die er zu erreichen suchte - bis zum Abend, oder bis zum nächsten Vollmond, oder auch bis zu einem Zeitpunkt in noch weiterer Ferne, - diese Liste war eigenwillig. Da mochte das Erledigen von Steuerangelegenheiten Platz finden und hierin den Vorsätzen vieler anderer Landesbürger gleichen. Doch vor diese Pflicht stellte er wie selbstverständlich als noch dringlicher das Arrangieren seiner geliebten Balkonpflanzen. Es war ihm nur Ausdruck eines klaren Verstandes, dass an Steuer und Zinsen nicht zu denken sei, solange die eigenen Rosenkübel nicht versorgt waren. Ebenso durfte für ihn das Verfassen eines behördlichen Briefs, wenn auch wichtig, nicht der noch größeren Notwendigkeit im Wege stehen, die wunderbaren Zeichnungen der „Tiere im Walde“ zu ordnen, die er vor Tagen schon von einer alten Frau erworben. Und weiter: Ein Gespräch mit dem Hausbesitzer über den zu zahlenden Mietzins mag andere Menschen als besonders ernst dünken. Er aber, den ich hier meine, suchte am Monatsende, als es schon Zeit war für die Zinsverrichtung, zunächst ein anderes Gespräch: eines mit dem Nachbarn, mit dem es Wichtiges zu bereden galt: die mögliche gemeinsame Teilnahme an den neuen Sportwettkämpfen in der weit entfernten Großstadt. Solcherlei Beispiele könnte ich noch lange fortfahren zu berichten.

Die Leser, die eine gänzlich andere Art an sich haben, mag es überraschen: Lebenskünstler weisen eine starke Neigung auf, an Beschlossenem festzuhalten. Sie sind, so lässt es sich wohl sagen, mitunter sogar besessen davon, Geplantes auszuführen und sich nicht beirren zu lassen. Es ist durchaus nicht so, dass sie blauäugig und unbekümmert in den Tag hineinlebten. Es mag vorkommen, dass ein häuslicher Notstand eintritt, wie etwa eine Decke, aus der es lustig auf den Boden tropft. Der Lebenskünstler wird das Problem erkennen – vor allem dann, wenn das Wasser bereits das vorsorglich unter die tropfende Stelle deponierte Gefäß gefüllt hat, das nun im Begriff ist überzulaufen. Er wird dem Problem auch den notwendigen Respekt zollen und sich zuverlässig dieses Ärgernisses annehmen, und zwar genau zum richtigen Zeitpunkt: als erste Handlung am nächsten Morgen. Denn heute sind drei Freunde zu begrüßen, und abends ist man geladen zu einer besonderen Lesung.

Auch ihm, von dem ich berichte, war Struktur von hohem Werte. Jemand, der ihn gut kannte (und sich selbst einen Philosophen hieß – eine Bezeichnung, die ich allerdings stets etwas peinlich empfand) erklärte mir das einmal. Wenn ich richtig verstanden habe, ist es so: Es existiert eine Struktur der Notwendigkeiten und Pläne. Diese zieht sich wie ein feiner, roter Faden durch die Zeit. Neben dieser Spur tauchen andere Maserungen und Linien auf, überall und immer wieder kreuzen sie den feinen Faden, sind prominent, leuchten hell, bilden wunderschöne Muster. Sie sind allesamt im Grunde unwiderstehlich. Die meisten von uns sehen die schönen Muster dankbar an, finden Orientierung und Klarheit, wenn wir ihnen folgen. Der Lebenskünstler aber – und hier wurde der „Philosoph“ konkret, er meinte nämlich ihn, unseren gemeinsamen Bekannten – hatte damit seine Mühe: Einfach aus dem Grund, dass alle diese Linien und Muster bereits vorgefertigt sind. Sie entstanden vor langer Zeit und konnten so Form und Harmonie entwickeln. Aber sie sind eben nicht der ganz eigenen Harmonie entsprechend, geben Wege vor, die andere gebahnt, Orte, die von anderen geschaffen wurden. Für ihn, den Eigenwilligen, der sich selbst Wege erdenkt, dienen sie nicht als Pfeiler und Richtungsweiser. Sie stören seine persönliche Struktur, die ihm daher so überaus wichtig ist und auf der er beharren muss.

Eine kleine Beschränkung, die er, den ich Lebenskünstler nannte, hinnehmen musste, bestand darin, dass er ständig Menschen begegnete, die ihn nicht recht verstehen konnten. Das lag, so vermute ich, sicherlich zu großen Teilen an seinem manchmal fast ein wenig bockigen Ansinnen, selbständig nachzudenken. Diese Angewohnheit war geradezu eine Prägung. Wahrscheinlich hatte er irgendwann, als er noch sehr jung war, zu einer bestimmten Gelegenheit einen anderen Menschen dabei beobachtet, wie dieser nachdachte, bevor er sprach. Das muss sich tief in das Bewusstsein meines armen Bekannten eingeprägt haben, und nun konnte er nicht mehr anders. Das führte immer wieder dazu, dass er sein Gegenüber, auch ganze Gruppen, störte. So geschah es einmal in meinem Beisein, dass sich einige Nachbarsleute über die Betrunkenen ereiferten, die des Abends Ende der Arbeitswoche überall auftauchten und sich auf offener Straße unflätig zeigten. Einige der Eiferer verkündeten, man solle nur sogleich die Polizei rufen, die wisse, wie man mit derlei Belästigungen umgehen müsse. Andere waren von hitzigerem Gemüt und erklärten, man könne gleich selbst zur Tat schreiten und mit den Elenden gut fertig werden, da sie ja, von Alkohol betäubt, ohnehin nicht recht im Vollbesitz ihrer körperlichen Kräfte seien. An diesem Punkt nun erhob mein unglücklicher Freund die Stimme und überlegte, ob die Trunkenheit nicht mit der Misere der langen und übermäßig beanspruchenden Arbeitswoche zusammenhängen könne. Nach diesem Vorschlag herrschte zunächst entsetzte Stille. Danach huben dann alle Anwesenden zu empörter Gegenrede an. Was solle das, dass er, der doch dazu gar nicht kenntnisreich und qualifiziert sei, plötzlich eine dritte Seite ins Spiel bringe! Das sei ungehörig, unsinnig und stifte Unfrieden! Es sei auch unangemessen, denn könne er Beweise vorbringen? Habe er solches von einem gehört, der belesen und kundig sei und wisse, wovon er spreche? Das konnte der Ärmste natürlich nicht, denn lediglich er selbst hatte ja diesen Gedanken gehabt. Ich weiß noch gut, wie auch ich mich damals fragte: Wie kann er so etwas behaupten, wenn er doch unwissend und unbedarft ist? Was wird er sich noch anmaßen zu behaupten?

Er bereitete uns mit der Zeit immer mehr Verdruss, der Unachtsame, durch seine Neigung, trotz aller Widerstände glücklich zu scheinen. Er reiste viel, obwohl er über nur beschränkte Mittel verfügte. Er schloss Freundschaften, manchmal auch anstößige und unverständliche, mit Menschen, die so gar nicht unserem Stil entsprachen. Vor allem aber – mit dieser Ansicht war ich nicht allein - feierte er sich selbst, unbescheiden und ohne Maß. Dabei, das darf ich wohl behaupten, hatte er wahrlich keinen Grund dazu!

Irgendwann ist er in die neue Welt aufgebrochen, auf einem dieser Schiffe, auf denen solch erbärmliche Zustände herrschen sollen. Ich habe dies nie ganz begriffen, muss aber sagen, dass ich nicht unglücklich darüber war. Menschen, die so leben, wie ich es bei ihm beobachtet habe, sind stolz und uneinsichtig. Nicht selten mag es vorkommen, dass sie Unglück und Verderben über andere bringen. Sie verschließen vor der Wahrheit die Augen und leben wie die Kinder sorglos vor sich hin. Ja, auch er, der große Abenteurer, der meinte, das Leben sei nur ein Tanz, gehörte zu diesen Menschen. Ich spüre Ärger, denke ich an ihn und an euch alle, die ihr auch so seid. Aber - wartet nur ab, ihr Verleugner der Wahrheit! Ihr meint wohl, ihr könntet eure eigenen Lebenswege erschaffen, gegen das Ansinnen der großen Gemeinschaft! Solches haben schon andere gedacht - und verloren. Es ist nicht alles so heiter und unbeschwert, wie ihr dies gern darstellt. Wichtigere als ihr haben die großen Wege vorgezeichnet. Die Harmonie der Maserung im Holz unseres Lebens ist so vollkommen, weil sie über Jahre und Jahrzehnte entstanden ist. Bewährtes meint ihr, missachten und verachten zu können? Ihr seid einem Irrtum erlegen. Aber hört: wir werden nicht untätig bleiben. Ihr werdet wissen, wenn die Zeit reif ist. Ihr seid die ersten, die fallen werden, die wir zu Fall bringen werden. Darauf mein Wort.

2. Tanz: Am dunkelsten Ort

Tief im Wald, an der Stelle, an der die lichten Laubbäume in dunklen Nadelbewuchs übergingen, wo die Sonne nur in vereinzelten Strahlen durchbrach, um einen Punkt am Boden zu markieren, genau da war der beste Platz für die kleinen Kunstwerke. Sarah hatte diese Orte vor langer Zeit gefunden, als sie noch ein Kind war. Das war jetzt mehr als 60 Jahre her. Damals war sie auf der Suche nach dem dunkelsten Punkt ihrer Welt gewesen. Ihr war selbst im Alter von acht Jahren klar gewesen, dass ihre Welt klein war: das Haus, in dem sie mit ihren Eltern und Geschwistern wohnte, der Garten, der Weg zum Dorfladen, die große Straße, an der man aufpassen musste, bevor man sie überquerte (es kamen hier immer wieder Menschen um ihr Leben: Fußgänger, die gedankenverloren die Bushaltestelle auf der gegenüberliegenden Seite ansteuerten, wurden von einem LKW überfahren, Radfahrer, die ein wenig zu weit in die Mitte trudelten, wurden von einem Auto ergriffen und starben dann noch, bevor der Krankenwagen eintraf), und schließlich, jenseits der Straße, der Wald. Diese Welt war klein, aber – und das war Sarah immer wichtig gewesen – nicht begrenzt! „Theoretisch kannst du immer weitergehen, wenn es dich dazu treibt“, pflegte Sarahs Vater zu sagen, und ihre Mutter fügte dann immer hinzu: „Es gibt keine Mauer, die dich aufhält!“ Im Leben ihrer Eltern hatte es Mauern, Zäune und Grenzen gegeben. Sie waren kurz vor Sarahs Geburt aus dem östlichen Teil Deutschlands geflohen. Eine Welt, die theoretisch in ihrer ganzen Weite zu begehen war, stellte deshalb das Fundament ihres persönlichen Glücks dar, auch wenn sie praktisch nur selten Gebrauch von dieser Weite machten.

Von der Welt, die Sarah als Kind zur Verfügung stand, bildete der Wald das Herzstück. Der Wald verdiente die Bezeichnung „Welt“: er war groß, unübersichtlich, abwechslungsreich und überraschend. Er barg unheimliche und geheimnisvolle Orte. Dort wuchsen seltsame Pflanzen, zum Beispiel die merkwürdigen Parasiten, die an Stämmen emporkletterten, dicke Äste umklammerten und sich ganze Bäume einverleibten. Oder das Moos, das an schönen Tagen wie ein lieblicher Teppich zum Liegen einlud, und in düsteren Stunden unheilvoll moorig aussah, Füße zum Rutschen und Menschen zu Fall brachte. Natürlich gab es auch Tiere im Wald, die man lange nicht hörte und sah, aber mit der Zeit immer besser kennen lernte: Wenn man über Stunden unbeweglich in einer Astgabel hockte, konnte es vorkommen, dass man plötzlich ein Rascheln vernahm. Zuerst mochte man denken, es habe sich dabei um den Wind gehandelt, oder um eine herunterfallende Eichel. Aber dann raschelte es wieder, das Geräusch kam näher, auf einmal schnaubte es irgendwo in der Nähe, man spürte, dass da etwas war – und wenn man den Kopf drehte, sah man auf einmal dort am Rande der Lichtung ein Reh stehen, vorsichtig, aufmerksam, witternd. Es war Sarah nie gelungen, ein Tier tatsächlich aus dem Dickicht des Waldes treten zu sehen. Immer war das Tier plötzlich einfach da.

Was Sarah im Wald am meisten faszinierte, waren Licht und Dunkel. Nirgendwo sonst war es so hell, wie es auf einer Wiese war, wenn man aus dem Wald heraustrat. Die Sonne schien so weiß und strahlend, dass man auch ohne physikalische Kenntnisse sofort verstand, welch unglaublichen Hitzegrade am Werk waren. Wenn man nicht sofort die Augen schloss, schien die Gefahr ganz real, durch diese blendende Kraft zu erblinden. Sarah hatte für diese Situation des Aus-dem -Wald-Tretens eigens ein Ritual entwickelt: die Augen schließen, die Lider vorsichtig der Lichtquelle zuwenden und dreimal die erste Strophe des Gedichts „Der Knabe im Moor“ murmeln, bevor sie es dann wagte, die Augen wieder zu öffnen:

Wie schaurig ist´s, übers Moor zu gehn,
Wenn es wimmelt vom Heiderauche,
Sich wie Phantome die Dünste drehn:
Und die Ranke häkelt am Strauche.
Unter jedem Tritte ein Quellchen springt,
Wenn aus der Spalte es zischt und singt!
Oh schaurig ist´s übers Moor zu gehn,
Wenn der Röhricht knistert im Rauche!

Sarah wusste, dass es eigentlich „das Röhricht“ hieß, aber sie fand das Wort ausdrucksstärker und eindrucksvoller, wenn sie „der Röhricht“ sagte. Sie stellte sich einen düsteren Baum-Mann vor, der mit knorrigen Ast-Armen um sich griff, seine hölzernen Gelenke knacken ließ und, von Nebelschwaden umwabert, durch knisterndes Unterholz stakste. Lange Zeit glaubte sie, dass die Worte dieser Strophe Zauberkraft besaßen. Sie schützten vor der Sonne und ihrer Macht, Blindheit zu bringen, sie schützten auch vor bösen Waldgeistern und untergründigen Wassern, auf denen ein Fluch lag und die unschuldige Waldwanderer unversehens in ihre strudelnden Tiefen zu ziehen vermochten. Das Gedicht – beziehungsweise die erste Strophe, denn mehr konnte Sarah nie behalten – war ihre Rettung vor allem Wilden und Bösen und gab ihr dadurch die Freiheit, den Wald zu erkunden und allen Gefahren unerschrocken zu begegnen.

Das Sonnenlicht im Wald war ganz anders als draußen auf der Wiese. Es war wie der Farbregen eines gigantisch großen Malers, der mit beiden Beinen irgendwo außerhalb von Sarahs Welt stand und immer wieder seinen riesigen Pinsel ausschüttelte. Manchmal sprühten goldgelbe Farbtropfen in Tausenden von Perlen über weite Strecken und hinterließen überall leuchtende Spuren in der Luft, auf Baumkronen, an dunklen Stämmen und auf der Erde. An anderen Tagen lag ein verwaschener, fahler, wässriger Hauch über allem, wie eine große und alte Taschenlampe, die durch ein bleiches Tuch hindurchschimmert. Am schönsten waren die Momente, in denen Sarah sah, dass der Wald eine Bühne war: mit ganzen Baumreihen als stummes, im Dunkeln verharrendes Publikum vor einem einzigen, hell erleuchteten Fliegenpilz, den der Maler mit seinem Zauberpinsel zum einsamen Protagonisten erhoben hatte.

Natürlich gehörte zum Licht auch die Dunkelheit. Schon früh hatte Sarah begriffen, dass diese beiden Dinge nur nebeneinander existierten. Und nicht etwa, weil Sarahs Mutter immer Sätze sprach wie „Kein Licht ohne Dunkel, nicht wahr?“, oder „Wo Licht ist, ist auch Schatten, aber wo es dunkel ist, wird es auch wieder hell“. So etwas sagte Sarahs Mutter immer dann, wenn sie schlechte Nachrichten in der Zeitung las, zum Beispiel, als John F. Kennedy erschossen wurde, oder auch als sie erfuhr, dass ihre früheren Nachbarn aus Chemnitz bei ihrem Fluchtversuch erwischt und verhaftet worden waren. Allerdings äußerte sie sich auch in ähnlichen Phrasen, wenn ihr ein neues Rezept misslang oder wenn Sarahs Vater sich darüber aufregte, dass die Erdbeeren im Garten von einer Fäule befallen waren und die gesamte Ernte unbrauchbar war. Wenn Sarahs Mutter dann bedeutungsschwanger bemerkte: „Auf Licht folgt Schatten“, dann wehrte der Vater ärgerlich ab mit dem Hinweis auf Wald-, Feld- und Wiesenphilosophie für den Hausgebrauch. Ein Kommentar, der Sarah verwirrte, weil sie Philosophie immer mit Philharmonie verwechselte und deshalb rätselte, was große Orchester mit Wald und Wiese zu tun haben könnten, und was genau „Hausgebrauch“ bedeutete.

Trotzdem war Sarah selbst ganz klar, dass Dunkelheit und Licht einander bedingten. So wie sie die Sonne fürchtete und zugleich liebte, so suchte sie auch, ängstlich und fasziniert, nach dem dunkelsten Punkt in ihrer Welt. Sie ahnte, dass sie diesen Ort nur im Wald finden konnte. Und so war es dann auch. Als sie am späten Nachmittag eines Oktobertages einen Waldhügel erklommen hatte - sie war bereits zweimal im Moos ausgerutscht und hatte zufällig ebenfalls zweimal einen Grünspecht nicht nur gehört, sondern auch gesehen: einmal, wie er ärgerlich an einem Stamm pochte, und das zweite Mal, wie er geckernd auf den Boden flog, vielleicht weil ihm ein Wurm oder ein Insekt aus dem Schnabel gefallen war, - sie hatte jedenfalls den höchsten Punkt des Waldhügels erreicht und sah einen ganz schmalen, ihr unbekannten Pfad, der sich auf der anderen Seite des Hügels durch dichtes Gestrüpp wieder etwas nach unten schlängelte. Sarah folgte dem Pfad. „Noch ein paar Minuten habe ich Zeit, bevor ich umkehren muss“, dachte sie, denn es würde bald zu dämmern beginnen. Der Pfad hatte sich schnell verloren, es war wohl nur ein früherer Forstweg gewesen. Doch da, wo der Weg endete, begann der dunkelste Nadelwald, den Sarah je gesehen hatte. Tanne stand an Tanne, unbeweglich und stumm. Die erste Reihe der Bäume sah aus wie die Spitze eines Heeres: Stämme wie Soldaten, in Reih und Glied, geordnet und diszipliniert, voller Abwehr und zugleich bedrohlich in ihrer Bereitschaft zu Angriff und Gewalt. Sarah holte tief Atem und bahnte sich, gebückt und die Arme um ihren Kopf geschlungen zum Schutz vor den Stichen der Nadeln, mühsam, aber aufgeregt und fest entschlossen, einen Weg mitten in die Dunkelheit hinein.

Später wusste sie, dass dieser Augenblick, als sie dort kauerte, auf dem nadelübersäten, dunkelrot-schwarz-grünen Boden inmitten starrer, wie leblos wirkender Tannen, dass diese Minuten, die sie dort stumm und unbeweglich wartete, zu dem Schrecklichsten und Schönsten gehörten, was sie je erleben würde. Sie war so einsam und die Umgebung so unheimlich, dass nicht einmal die Worte des „Knaben im Moor“ halfen. Die Dunkelheit war schwarz, undurchdringlich und voller lauernder Gefahren. Es war fast zu viel, aber da war auch noch etwas anderes. Es war das Gefühl, dass hier alles möglich war. Niemand würde jemals wissen, dass sie hier war, was sie hier machte und wie sie sich dabei fühlte. Sie war ganz auf sich gestellt, und plötzlich war die Welt unendlich groß und wartete in ihrer Schwärze, Stille und Unbeweglichkeit, dass etwas geschah.

Ihr erstes Kunstwerk hatte Sarah hier zwischen den Zweigen einer Tanne entstehen lassen. Die Tanne war klein, sie wuchs zwischen den glatten Stämmen größerer Artgenossen, und ihre Zweige begannen fast unmittelbar über dem Erdboden. Die Fäden, aus denen Sarah das wirre Gebilde knüpfte, zog sie aus ihrem grauweißen Pullover, den sie trug. Sie zerriss mit den Zähnen eine Masche, zog so viel Wolle heraus wie möglich, verarbeitete sie und zerriss dann eine weitere Masche. Als sie mit dem Fadenwerk fertig war, fehlt ihr der halbe Ärmel. Ihrer Mutter würde sie später sagen, sie sei an Dornen und Ästen hängengeblieben – was in gewisser Weise ja auch stimmte. In die verwobenen Fäden, die weißlich zwischen den dunklen Nadeln glänzten, hängte sie ihr goldenes Armbandkettchen, einen scheußlich riechenden Pilz, den sie in der Nähe unter einer der großen Tannen fand, und schließlich ein Taschentuch, mit Harz verklebt und verformt. Später musste sie immer lachen, wenn sie Artikel las über Bilder, die reich gedeckte Tische mit kostbarem Porzellan zeigten, umgeben von verfaulenden Früchten, verblühenden Blumen und verrottetem, madenbefallenen Fleisch. Es gab auch die großformatigen Darstellungen von prächtig gekleideten Menschen mit kostbarem Schmuck und allen Symbolen großen Reichtums, aus deren Bildecken grinsende Totenköpfe lugten oder tanzende Skelette im Hintergrund winkten. Sie hatte gehört, wie bei Diskussionen über solche Bilder das Nebeneinander von Leben und Vergänglichkeit erwähnt wurde. Sie selbst hatte – ohne es zu wissen- dieses Prinzip schon als Kind erkannt und in mehrfacher Hinsicht in ihren Kunstwerken offenbart. Auch die „neue Einordnung und Bewertung von Alltagsgegenständen“ gehörte zu ihren Entdeckungen, bevor sie je von Joseph Beuys gehört hätte. Und Kunst, die mit der Zeit vergeht, die fließt und keinen Bestand hat? Sarah hätte am liebsten gerufen: „Geht in die Wälder, sie sind voll von dieser Kunst! Schaut mal, was ihr da alles findet: zugespitzte Stöcke, übriggeblieben von Tipis, die Kinder gebaut haben. Ein bemalter Stein, mitten im Wurzelwerk eines gefällten Baumriesen. Drei Fäden aus einem undefinierbaren Material, seltsam verschlungen, irgendwie nicht natürlich – das war mal der Ärmel meines Wollpullovers, vor fast 60 Jahren!“

Sarah hatte nie verstanden, warum die meisten Menschen so viele Worte verlieren über all das, was so offensichtlich ist. Und auch über das, was gar nicht offensichtlich ist, was man erfühlen und ertasten muss, was erst Gestalt annimmt, wenn man sich Mühe gibt, es zu formen. Worte waren verstörend, verwirrend, unpräzise oder unnötig, jedenfalls meistens. Jetzt, mit 65 Jahren, fragte sie sich manchmal, ob sie es mit ihrer Wortlosigkeit vielleicht übertrieben hatte. Sie hatte immer wieder das Notwendige gefragt, geäußert und erwidert: zum Beispiel in ihrer Lehre zur Schreinerin, auf Besuchen bei ihren Eltern, im Zusammensein mit ihren wenigen Freunden. Es war ja nicht so, dass sie nicht hätte formulieren können. Sie hatte allerdings immer noch Schwierigkeiten mit Fremdwörtern. Philosophie und Philharmonie konnte sie natürlich mittlerweile unterscheiden, aber sie fand es mühsam – und auch unnötig -, in Gesprächen mit anderen Künstlern Varianten und Variablen voneinander zu trennen, sie konnte nicht verstehen, was genau mit Konzeptkunst gemeint war – ganz zu schweigen von Kommentaren zu ihren eigenen Werken: Wenn da von der Volatilität ihres Ansatzes die Rede war, wenn begeisterte Anhänger die unglaubliche Empathie ihrer Schöpfungen rühmten, dann antwortete sie – mit Schweigen. Sie lächelte manchmal, was ihr den Ruf einer rätselhaften Weisen eingebracht hatte. Jedenfalls war das so gewesen, als sie noch jünger war und die Stimmung im Land noch frei. Das hatte sich geändert. Irgendetwas war tatsächlich anders geworden, und zwar seit ihrem 60. Lebensjahr – dem Jahr, in dem „das Geld knapp wurde“, das Jahr, in dem „die große Krise begann“. Es hatte damit zu tun, dass es vielen Unternehmen schlecht ging. Sarahs Mitbewohner, ein Webdesigner, musste sein Geschäft schließen und als Programmierer für kleine Überwachungskameras sein Geld verdienen. Seine Auftraggeber waren andere, größere Unternehmen, denen es auch nicht gut ging, wie er immer sagte, die aber versuchten, durch das Nachverfolgen der Aktivitäten von „Endkonsumenten“ ihre „Marketingstrategie“ und ihre „Produktpalette“ anzupassen und dadurch ihren Umsatz zu steigern. Auch Sarahs Freunde hatten Schwierigkeiten: Kaum ein Künstler konnte noch Kredite erhalten, weil die Banken immer mehr Sicherheiten verlangten, die nur wenige nachweisen konnten. Und Sarah selbst war natürlich auch betroffen. Sie wurde nur noch selten eingeladen, ihre Kunst interessierten Gruppen zu zeigen. Die geführten Wanderungen durch die Wälder, mit Galeristen, die sich auf diese Touren spezialisiert hatten („Walking the Arts“ nannten sie das), waren eine der Haupteinnahmequellen für Sarah gewesen. Sie sprach zwar auch auf diesen Kunst-Spaziergängen nicht viel, aber sie war dabei: eine exzentrische Künstlerin, die geheimnisvoll lächelte und die von den Kunden als „erstaunliche Persönlichkeit“ beschrieben wurde, wenn sie in ihren alten Jeans, den langen, unförmigen (und manchmal unvollständigen) Pullovern mit ihren grünen Gummistiefeln vorausmarschierte und die gespannte Gruppe zu so vielen versteckten Orten im Wald führte, um ihnen die Fadenspinnereien mit den darin hängenden Gegenständen in den unterschiedlichen Stadien des Verfalls vorzuführen. Die Galeristen redeten die ganze Zeit und machten Fotos von der Waldkunst, die später in ihren Ausstellungsräumen zum Verkauf hingen. Aber, wie gesagt, diese Wanderungen kamen nur noch selten zustande. Die Leute hatten kein Geld mehr für Kunst.

Sarah verstand das, es berührte sie aber kaum. Sie benötigte wenig Geld, nur zum Wohnen und für Lebensmittel. Ein Auto hatte sie nie besessen, Kleider bedeuteten ihr nichts, und sie musste auch nicht verreisen, um Inspiration für neue Werke zu erhalten. Trotzdem merkte sie, dass es für sie schwierig wurde. Sie lebte, wie viele Menschen heute, in einem „Trans-Generation-Cluster“: einem riesigen Gebäude mit Wohneinheiten für Menschen jeden Alters, die sich Küche, sanitäre Anlagen und auch Wohnzimmer teilten und selbst nur ein kleines Zimmer hatten, in das sie sich zurückziehen konnten. Es gab wenige geschriebene Regeln in diesen Trans-Gen-Clusen (so nannte man die Wohngemeinschaften hier in Berlin), dafür umso mehr „Das-sollte-doch-selbstverständlich-sein“-Vorschriften. Es war selbstverständlich, dass man aufräumte, aber vor allem, dass man an den gemeinsamen Aktivitäten teilnahm. Das machte Sarah nur selten, aber sie hielt sich meist für sich selbst, sprach ohnehin kaum. Es war auch selbstverständlich, dass man für das Zimmer zahlte, und zwar aus eigenen Mitteln. Schließlich galt es, den Staatshaushalt nicht noch weiter zu belasten. Sarah stellte ihren Wohngeldantrag nur, wenn es wirklich unbedingt sein musste. Abends saßen die Bewohner meistens zusammen und hörten mit besorgten Gesichtern Nachrichten. Sarah saß mit dabei, aber sie war gedanklich weit weg. Wenn die anderen hitzig über die Lage diskutierten, kam es vor, dass sie eine Idee für ein neues Fadenspiel hatte und ihre Augen aufleuchteten. Wurde sie nach ihrer Meinung gefragt, schreckte sie aus ihrer inneren Welt auf und schaute verstört in die erwartungsvolle Runde. Immer häufiger war es in letzter Zeit vorgekommen, dass dann verschiedene ihrer Mitbewohner sich vielsagende, stumme Blicke zugeworfen hatten.

Sarah wusste nicht genau, was so anders geworden war, aber es hing mit der Art zusammen, wie sie angesehen wurde. Früher waren es Blicke der Fremdheit und der Bewunderung gewesen, jetzt schien es eher eine Mischung aus Ekel und – je nachdem, wer ihr gegenüberstand – Mitleid oder kalter Abschätzigkeit zu sein. Sie hatte im Radio gehört, wie von „den Parasiten, die nur nehmen“ die Rede war. Dabei war das Bild der Schlingpflanzen, die sich um die Bäume wanden und sie schließlich erwürgten, vor ihren Augen aufgetaucht. In der Nacht hatte sie geträumt, sie selbst sei eine solche Schlingpflanze, und sie klammerte sich – im Traum – umso fester um den Stamm des Baumes, an dem sie emporwuchs, desto wütender die Männer, die unten am Fuß des Waldriesen standen, mit ihren Messern und Äxten auf sie einschlugen, um sie zu lösen. Sarah spann den letzten Faden – diesmal verstärktes Lametta und bunte Gebetsfäden, die sie von einem Freund aus Kathmandu erhalten hatte – um die Zweige. Sie trat einen Schritt zurück. Ja, es war die dunkelste Stelle des Waldes. Der Vogel, den sie aus Fäden gesponnen hatte, schillerte und glänzte. Es war das erste Mal, dass sie einen Gegenstand geschaffen hatte. Das war symbolisch, sie wusste es und konnte die Bedeutung dieses Wortes auch ihrem Fadenvogel zuordnen. Immer wieder in Sarahs Leben war von einem „niedrigen IQ“ die Rede gewesen. Dieser Ausdruck hatte, wie so viele Wörter und Phrasen, keinen Bezug zu ihr und ihrer Welt. Sie ahnte, was damit gemeint sein mochte: ihr Unverständnis für so viele Belange von so vielen Menschen. Ihre Schwierigkeiten mit Fremdwörtern. Aber es war gleichgültig, besaß keinen Wert für sie, was dieser Begriff über sie aussagen sollte.

Sarah wusste alles, verstand alles. Sie wusste, dass diese Tatsache von entscheidender Bedeutung war: Sie hatte zum ersten Mal einen Gegenstand gesponnen, kein Gewirr, in dem sich Künstliches und Natürliches verfingen. Es war eine Nachbildung, ein Teil des Waldes. Es war – Sarah entsann sich des Wortes: eine „Zäsur“. Sarah wusste auch, dass ihre Zeit zu Ende ging. „Unsere Toleranz ist nicht unbegrenzt!“, hatte der Hauswart gesagt, als er vor ein paar Tagen in ihr Zimmer gekommen und überall ihre Fadengespinste gesehen hatte. Sarah hatte gerade überlegt, wo sie die drei Federn eines Eichelhähers platzieren sollte und deshalb nur noch das Ende der Rede gehörte: „... haben es sich selbst zuzuschreiben!“ Sarah wusste, dass es ihre Schuld war. Sie verdiente nichts mehr, sie war nicht mehr interessant, nur noch schäbig. Sie hörte nie zu, wenn die Hausgemeinschaft sich besprach, sie dachte nur an den Wald, an das nächste Fadengespinst und an die Frage, wie sie noch dunkle Stellen finden konnte.

Sarah verstand, dass sie zu wenige Worte verloren hatte. Ihre Freunde hatten sich von ihr abgewandt. Sarah wusste, dass ihr Urgroßonkel nach Amerika ausgewandert war, weil er zu viel geredet hatte. Sie selbst hatte zu wenig geredet, und ihr blieb kein Ausweg in eine neue Welt. Sie musste hierbleiben und einsam weiter Fäden spinnen. Es raschelte wieder im Gebüsch, und als Sarah sich umwandte, wünschte sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben, es möge kein Tier sein.

3. Tanz: Du und ich

Lieber Freund, wie schön, von dir zu hören! Wir haben uns lange nicht gesprochen. Das letzte Mal war es, als unsere Freundinnen gleichzeitig mit uns beiden Schluss machten. Wir haben getrunken und geredet, bis der Mond unterging.

Wie? Du bist nicht sicher, ob du mit mir wirklich sprechen möchtest? Ich glaube nicht, dass ich dich verstehe. Bist du etwa verärgert, weil ich mich so lange nicht gemeldet habe? Nein, das ist es nicht? Was ist es dann? Du sprichst vage, deine Andeutungen sind kryptisch. Du bewegst dich auf einer ganz anderen Ebene? Was meinst du damit? Wir wohnen doch beide im Hochparterre, haha. Nein, das war ein Witz, ich wollte die Spannung, die ich bei dir spüre, etwas herunterbringen. Natürlich weiß ich, dass du nicht von der Wohnungsetage gesprochen hast. Trotzdem ist mir nicht klar, worauf du mit deinen Ebenen anspielst. Du bist geschieden, ich habe noch gar nicht geheiratet, meinst du das?

Ach je, jetzt fühlst du dich ertappt. Dieses Schnauben kenne ich noch aus den Tagen unserer gemeinsamen Wohngemeinschaft. Immer, wenn dir jemand auf die Schliche gekommen ist, hast du verächtlich die Luft durch die Zähne gezogen, auf diese unnachahmliche Art und Weise. Erinnerst du dich an den Abend, an dem wir Prominentenraten gespielt haben, mit den Nachbarn von unten? Du wusstest keinen einzigen Namen, kanntest die Leute, die wir erraten sollten, überhaupt nicht! Wir haben so gelacht. Da waren wir tatsächlich auf unterschiedlichen Ebenen – du der große Jazzmusiker, mit mindestens sechs „super coolen“ Instrumenten im Zimmer, die niemand spielen konnte, auch du nicht. Und ich der profane BWL-Student, der in der Freizeit durch die Fernsehkanäle zappte und alle Superstars, Schauspieler, Models und Partygirls kannte. Das war echt…

Ja, ich höre gern zu, wenn du redest. Bisher war mir nur nicht klar, dass du wirklich etwas zu sagen hast. Ich hatte eher den Eindruck, du wolltest du mir unsere Freundschaft kündigen. Wie ich darauf komme? Hör doch mal, wie kalt du klingst. Du hast angedeutet, dass du mehrere Meter höher lebst als ich – auf einer höheren Ebene, war es nicht so? – Aha, das kommt also auf die Sichtweise an? Welche Sicht hast du denn von da, wo du gerade eben stehst?

Nein, ich kann durchaus auch abstrahieren, ich muss nicht alles wörtlich nehmen. Ich höre dir gut zu und versuche, deine Botschaften zu deuten, in einem weiteren Sinne. Also, ich bewege mich auf der Ebene eines ganz durchschnittlichen Menschen, der frisch verliebt ist – ja, eine ganz faszinierende Frau, sie ist Kanadierin – was soll das denn schon wieder heißen? Natürlich aus Nordamerika? Warum natürlich? Waren alle meine Freundinnen Indianerinnen oder was? – Nein, ich versuche nicht, billige Witze zu machen. Aber meine bisherigen Freundinnen kamen aus dem Schwarzwald, aus Dresden und aus dem Saarland. Das war zugegeben schon etwas ausgefallen. Ich erinnere mich, als die Saarländerin mich einmal „Affezibbel“ genannt hat … Du hast Recht, das tut jetzt nichts zur Sache. Aber bitte erklär mir: Warum findest du es typisch für mich, dass ich jetzt in eine Kanadierin verliebt bin?

Ich bin verwirrt, oder begriffsstutzig, im Zweifelsfall beides. Wie meinst du das: noch klarer wäre der Fall, wenn sie direkt aus den Staaten käme? Sag mal, du hast doch nicht etwa diesen Pflaumenschnaps getrunken, den wir vor zehn Jahren selbst gebraut haben, und den wir aufbewahren wollten, bis wir beide Urenkel haben, die mit uns anstoßen wollen? – Jetzt hast du fast gelacht, immerhin, das ist ein Fortschritt. Oh Rätselhafter, sprich dich aus!

Aha. Ich verstehe. So siehst du das also. Das ist also dein Problem. Doch, wenn ich Problem sage, dann meine ich auch Problem. Du bist der Ansicht, dass ein kapitalistischer, rücksichtsloser und dem System verhafteter Banker wie ich einem unglücklichen ehemaligen Jazzmusiker, der gerade versucht, seine Memoiren zu schreiben und sich dabei selbst ununterbrochen leidtut, kein Freund mehr sein kann. Habe ich das korrekt zusammengefasst?

Nein, ich möchte mich nicht über dich lustig machen, dich auch nicht verletzen. Aber ich sage dir jetzt mal: du bist mein Freund, obwohl du ein verklemmter Pedant bist, der mich jahrelang mit seinen fürchterlichen Akkorden genervt hat, die nie locker rauskamen, sondern immer wie eine entsetzlich anstrengende Fingerübung klangen. Ja, das sage ich dir, obwohl oder gerade weil ich nichts von Musik verstehe! Du bist mein Freund, obwohl du geradezu frenetisch die Ekstase der Anarchie herbeigebetet hast und nie gemerkt hast, dass, wenn einer von uns eine Begabung zur Anarchie hat, ich das bin – der spießige, systemgeschädigte Wirtschaftstyp im schicken Anzug! Du hast doch diese ganzen Regeln aufgestellt damals, von wegen wer wann abwäscht und wie man zerbrochenes Geschirr ersetzt, ganz zu schweigen von diesen absurden Vorschriften zur Vermeidung unschöner Kochdüfte! Wenn es damals schon die Big Bang Theory gegeben hätte, dann wärst du Sheldon Cooper gewesen, nur nicht als theoretischer Physiker, sondern als verschrobener Akkordfetischist.

Nein, ich bin noch lange nicht fertig. Jetzt kapiere ich auch diese Anspielung auf meine kanadische Freundin, die besser noch eine US-Amerikanerin wäre! Eine echte Kapitalistin aus dem Reich des bösen Geldes für den korrupten Banker! Da hast du dir ja eine schöne schreckliche Welt zusammengezimmert, mein Lieber.

Heulst du jetzt etwa? Meine Güte, du änderst dich aber auch nie. Das war schon früher so, wenn wir zusammen was getrunken haben. Zuerst hast du scheußliche Katzenmusik zusammengejammert und dabei diesen verklärten Ausdruck auf dem Gesicht gehabt. Dann hast du mich beschimpft und gefragt, wie ich das letzte Fach der Welt studieren und gleichzeitig so ein toller Typ sein kann. Doch, genau das hast du gesagt: toller Typ! Und am Ende hast du geweint und mich angefleht, weiter dein Freund zu sein.

Ich will dir jetzt mal was sagen. Du bist einfach am Boden, weil du vor dir selbst nicht zugeben willst, dass du am liebsten ein richtig durchgeknallter Buchhalter sein würdest. Da liegt nämlich deine wahre Berufung, du Blödmann. Ja, das meine ich total ernst. Du bist detailversessen und geradezu gnadenlos ehrlich. Du würdest jeden kleinen Fehler entdecken. Wenn ich es so recht überlege, könnten wir einfach tauschen. Du übernimmst meinen Job in der Bank. Und ich schreibe meine Memoiren, ich habe nämlich schon eine Menge erlebt, lieber Freund, das sage ich dir!

Es klingelt. Das ist sicher diese verrückte Fadenfrau, die uns alle hier kirre macht mit ihrer Möchtegernkunst. Will sich wahrscheinlich Geld borgen. Ich muss mal an die Tür. Aber weißt du was, du hörst jetzt auf zu flennen und kommst rüber. Bring den alten Pflaumenschnaps mit. Nein, du bist an nichts schuld. Ja, ich auch nicht. Lass uns darauf einen trinken!


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