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Leben

Mittwoch, 18. April 2018

Über das Jungsein, das Laufen, das Zugfahren und darüber, was das alles mit uns zu tun hat...


Beginnen

„Hammelburg? Wo ist denn das?“ Diana starrte auf den Brief, den sie vor wenigen Minuten aus dem Briefkasten geholt hatte. Nach langer Wartezeit war er jetzt endlich da: der Bescheid der Bundeswehr. Sie würde im Herbst ihre Laufbahn als Berufssoldatin antreten. Aber wo in aller Welt lag denn Hammelburg?

Diana googelte den Ort auf ihrem Handy. Demnach war Hammelburg eine „Kleinstadt im unterfränkischen Landkreis Bad Kissingen“ und lag zwischen der Bayerischen Rhön und der Fränkischen Saale. (Saale? Was war das wieder? Da es sich um eine „sie“ handelte – die Saale -, vermutete Diana stark, dass es ein Fluss sein musste. Sicherlich idyllisch, da sie noch niemals davon gehört hatte und es somit auch kein von großen Schiffen befahrener Strom sein konnte.) Tatsächlich war Diana nicht einmal ganz sicher, wo die Bayerische Rhön und Bad Kissingen lagen. Sie war vor ein paar Jahren einmal mit der Schule in der Rhön gewesen. Da waren sie von Dortmund aus auf der Autobahn irgendwo in den Süden gefahren. Sie erinnerte sich an die Jugendherberge: ein schönes Fachwerkhaus mitten in grünen Hügeln. Als sie ankamen, schien die Sonne, und alle spielten den Nachmittag über vor dem Haus Fußball. Ab dem zweiten Tag regnete es dann ununterbrochen. Sie trabten durch nasse Wälder und hingen anschließend mit dem Handy im Zimmer herum. Einmal waren sie auch in einem Schwimmbad gewesen, aber das war offenbar vor allem für ältere Kurgäste gedacht. Die lauten Schüler störten den Betrieb und wurden ständig zur Ruhe gemahnt. Vielleicht war das in Bad Kissingen gewesen?

Mehr wusste Diana nicht mehr von dieser Fahrt. Hammelburg, na ja. Diana hatte eigentlich gehofft, es würde in der Nähe einer Großstadt sein. Sie hatte sich vorgestellt, wochentags zu trainieren und zu lernen und dann am Samstag in einer neuen, aufregenden Stadt auszugehen. In Berlin zum Beispiel, oder auch nur in Köln. Aber in der Nähe von Hammelburg schien es keine größere Stadt zu geben – außer eben Bad Kissingen, und das klang nicht nach Anregung, eher nach Krankenhaus und Altersheim.

Diana seufzte. Sie sollte sich freuen, dass ihre Bewerbung erfolgreich war. Sie war aber eben auch erst achtzehn Jahre alt und wollte etwas erleben. Unvermittelt überfiel sie ein kurzer Schauder existentieller Angst, auch wenn sie das nicht so formulieren würde. Sie hatte nur ein „blödes Gefühl“: Was wäre, wenn sie nach der harten Grundausbildung in einem Provinznest namens Hammelburg sofort in ein Krisengebiet geschickt würde und dort umkäme? Dann wäre ihr Leben vorbei, ohne dass sie erfahren hätte, was das hieß: zu leben.

Die Haustür schlug zu. Diana blickte aus dem Fenster, das zur Straße hin lag, und sah ihre Mutter bei den Mülltonnen vor dem Haus nach rechts auf den Gehsteig biegen. Sie ging zur Arbeit, also zum Supermarkt an der nächsten Ecke, um dort bis zum Abend an der Kasse zu sitzen. Diana beobachtete, wie ihre Mutter sich eine Zigarette anzündete. Dann versenkte sie das Feuerzeug mit der Aufschrift „Yes I can“ in der Tasche ihrer weiten, grünen Jacke. (Die Aufschrift war ein Werbegag von Mutters neuem Freund, der in der Druckerbranche arbeitete, noch niemals in den USA gewesen, aber trotzdem ein Trump-Fan war – deshalb die ironische Aufschrift in Abwandlung von Obamas Wahlkampfspruch.) Ein tiefer Atemzug, dann eine weiße Rauchwolke, die sich aus dem Mund der schmalen Frau kräuselte und aufstieg in einen grauen, verhangenen Himmel. Aus dem Vorgarten zwei Häuser weiter sah Diana eine Gestalt auf den Gehsteig treten, gerade in dem Moment, als ihre Mutter dort vorüberging. Es war der alte Ingulf. So wurde er von allen in der Nachbarschaft genannt, obwohl er eigentlich Ingo Wulff (mit Doppel-F!) hieß. Ein Alkoholiker, wie er im Buche stand. Auch jetzt ließ sein torkelnder Gang auf einen hohen Promillestand schließen. Ingulf sprach Dianas Mutter an, sicher bettelte er wieder um ein paar Cent für eine „Stulle“. Da war er aber an der falschen Stelle! Diana grinste, als sie beobachtete, wie ihre Mutter kurzen Prozess machte mit dem Säufer. Sie war schneller vorbei, als man bis drei zählen konnte, und Ingulf stand da und sah ihr sprachlos hinterher.

Diana überlegte, wen sie anrufen könnte, um von ihrem Ausbildungsplatz zu erzählen, als ihr Handy zwitscherte. Eine Nachricht von ihrer Freundin Jane. „Hey, was steht an? Machst du heute was? Bin total verkatert von gestern Abend!!!“ Kurz überlegte Diana, ob sie Jane sofort zurückrufen sollte. Es wäre schön, jemandem zu berichten, dass sie bald zur Soldatin ausgebildet werden würde. Aber Jane war in einer schlechten Phase. Sie wohnte, wie Diana, noch immer zu Hause. Ihr Vater war arbeitslos und deshalb depressiv. Er verbrachte seine Tage vor dem Fernseher. Ihre Mutter arbeitete täglich einige Stunden als Putzhilfe und kam dann gereizt nach Hause. Natürlich gab es ständig Streit: über die Sendungen, die Janes Vater sich anschaute, über die Unordnung in der kleinen Wohnung, und nicht zuletzt über Janes Freund, der zehn Jahre älter war als sie und den ihre Mutter verdächtigte, etwas mit Drogen zu tun zu haben. Jane würde die neue Perspektive in Dianas Leben nicht freudig zur Kenntnis nehmen. Sie würde nur die Aspekte sehen, die sie selbst betrafen: Diana würde weggehen, Jane zurückbleiben. Diana hätte eine Aussicht auf etwas Besseres, während sie, Jane, weiter in ihrer Zwischenwelt leben müsste, in der sie keine Schülerin mehr war, aber auch noch keine Auszubildende, kein Mädchen mehr, aber irgendwie auch keine richtige Frau, so ohne Geld, ohne eigene Wohnung und ohne einen eigenen Bezugspunkt im Leben.

Diana seufzte wieder. Sie verspürte keine Lust, ihrer Freundin zu antworten. Kurz dachte sie darüber nach, ihren eigenen Freund anzurufen, Benny. Er war ihr vertrauter Kumpel aus Schultagen, mit dem sie seit der 9. Klasse zusammen war. Aber Benny würde jetzt schon in dem Wagen sitzen, mit dem er an drei Tagen in der Woche Pakete ausfuhr. Da wollte sie ihn lieber nicht stören. Außerdem wäre er mit Sicherheit auch nicht sonderlich begeistert von der Aussicht, dass seine Freundin ein neues Leben in Bayern beginnen würde. Diana ärgerte sich. Egal, was passierte, immer gab es ein Problem! Entweder alles lief schlecht, dann wurde sie flüchtig getröstet, musste aber trotzdem allein mit ihren Sorgen fertig werden. Und wenn wirklich mal was klappte? Dann waren die anderen garantiert neidisch und konnten folglich ihr Glück eigentlich nicht teilen. Das wäre doch mal ein sinnvoller Rat, den ein Berater der Arbeitsagentur einem glücklichen Kunden mitgeben könnte: „Sie haben einen neuen Job? Verlieren Sie kein Wort darüber! Es könnte Sie Ihre Freunde kosten!“ Auf jeden Fall, dachte Diana weiter, in Dortmund-Mengede, einem „Stadtteil mit Potenzial“. Vor allem, was die Arbeitslosenquote betraf: die ging immer weiter nach oben.

Irgendwie war sie aufgeregt und rastlos. Diana beschloss, sich umzuziehen und zu laufen. Zehn Minuten später trabte sie bereits in ihrer weiten Jogginghose und der alten Sportjacke parallel zu den Gleisen am Bahnhof vorbei. Es hatte zu nieseln begonnen, aber das störte sie nicht. Sie trug gute Schuhe von Adidas, die sie sich im letzten Sommer als Aushilfe in einer Maschinenfabrik selbst finanziert hatte. Aus ihren Kopfhörern erscholl Jay-Z mit seiner eigenartigen Mischung aus lyrischen Gesängen, starken Rhythmen und – wie sie fand – poetischen Sprecheinlagen. Diana fühlte sich dem US-amerikanischen Rapper seelenverwandt. Es war, als seien seine Melodien und Texte hier entstanden, auf diesen Straßen im Nordwesten der Ruhrmetropole, mit den Wohnblocks und Häuserreihen aus der Nachkriegszeit, der roten Klinkerfassade von Aldi, der Einkaufsstraße mit der üblichen Mischung aus C+A-Filialen, Eineuroläden, Lotteriegeschäften und Trinkhallen.

Diana bog nach rechts ab, überquerte zwei Straßen und lief in eine Sackgasse mit ein paar schönen, alten Villen aus der Gründerzeit. Hier wurde es plötzlich grün und gepflegt. Am Ende der Sackgasse gab es einen schmalen Pfad, der auf das offene Feld führte. Jetzt konnte man das gleichmäßig auf- und abschwellende Rauschen des Verkehrs auf der nahen Autobahn hören. Diana streifte die Kopfhörer ab. Hier lief sie am liebsten ohne Musik. Sie empfand diese Gegend als angenehm wirklich, obwohl sie auf Nachfrage nicht hätte erklären können, was sie damit meinte. Es hing damit zusammen, dass hier der Boden unter ihren Füßen grasig und weich war, dass man hier Vögel hören und beobachten konnte, während zugleich die A2 unaufhörlich daran erinnerte, dass dies Deutschland im 21. Jahrhundert war. Man konnte sich vorstellen, dass Dortmund eine reiche, moderne und wunderschöne Stadt war, gestaltet von Architekten mit einer Vision: grüne Oasen, die das Gefühl der Naturverbundenheit schufen. Freie Flächen, auf denen man sich austoben, verstecken und erholen konnte. Eine Großstadt im Hintergrund, die durch neue Kunstwerke aus Stahl und Glas beeindruckte, mit blühenden Dachterrassen hoch oben, und mit Menschen, die sich unten durch kulinarische Raffinessen aßen, oder die aus fünfzehn verschiedenen Sorten von Kaffee wählten, während sie gedanklich Investitionen vornahmen und dabei Unmengen an Geld verdienten. So etwas hatte Diana einmal in einer Sendung über hypermoderne Mega-Cities in Asien gesehen.

Diana war bereits nassgeschwitzt. Ihr Lauftempo war hoch, sie joggte weniger, als dass sie rannte. Jetzt passierte sie eine Wiese, die in ein paar Wochen schon rapsgelb blühen würde, im Moment aber noch nass und grau dalag. Ein böse aussehender Hund jagte laut bellend umher. Der Mann, zu dem er gehörte, sah aus wie ein Neonazi: kurzgeschorener Schädel, Springer-Stiefel, Tätowierungen im Nacken. Er pfiff seinen Hund zurück, aber der raste einfach weiter, geradewegs auf Diana zu. Eine Panikwelle durchlief ihren Körper, sie überlegte, ob sie stehen bleiben und dem Hund in die Augen schauen sollte. Aber sie brachte es nicht fertig, also lief sie einfach weiter, immer schneller, der Schlamm spritzte, sie glitt einmal fast aus, konnte sich aber noch fangen. Wo war der Köter jetzt? Sie meinte, seinen heißen, stinkenden Atem schon an ihrem Bein zu spüren, wandte ruckhaft ihren Kopf, sah dann aber, dass das Biest endlich auf das wütende Geschrei des Mannes gehört hatte und zu ihm gelaufen war. Diana spürte die Erleichterung körperlich. Wie eine Droge, die neue Energie freisetzt, flutete sie durch ihre Glieder und gab ihr die Kraft, in vollem Tempo weiter zu laufen, über die gesamt Grünfläche zwischen der Stadt und der Autobahn, dann zurück durch die Straßen im Gewerbegebiet, vorbei am Baumarkt und den Autohäusern, bis sie wieder in ihre eigene Straße einbog. Es war jetzt 12 Uhr mittags. Diana war länger als eine Stunde gelaufen. Sie hatte eine Zusage als Auszubildende bei der Bundeswehr, sie würde weder ihrem Freund, noch ihrer Freundin etwas davon erzählen. Und sie würde jetzt eine lange heiße Dusche nehmen.

Abschied nehmen

Diana sah aus dem Fenster des Zuges, der sie zu ihrem neuen Leben brachte. Dortmund lag jetzt schon weit hinter ihr. Es war noch einmal kalt geworden, nachts herrschte sogar Frost, und auch tagsüber kletterten die Temperaturen nur bis knapp über den Nullpunkt. Die vorüberhuschenden Felder waren heute Morgen weiß bestäubt und sahen erstarrt aus. Die Schornsteine der Häuser rauchten, Menschen liefen in dicken Mänteln und mit pelzbesetzten, russisch anmutenden Mützen umher. Bäume standen geduldig wartend da, von Frost überzogen, und harrten des Frühlings. Die Landschaft erinnerte Diana ein wenig an ein Hobbitland, es wirkte wie eine winterliche Idylle. Abe da waren auch die Schwärme von schwarzen Krähen, die, auf der Suche nach Futter, umherzogen. Sie waren Boten einer dunklen Macht, Spione, die für einen bösen Herrscher unterwegs waren. Ihre Schnäbel sahen aus wie spitze, grausame Waffen, und ihre Augen blickten höhnisch auf schwächere Kreaturen.

In der S-Bahn war es angenehm warm und außerdem nicht sehr voll. Sie war fast allein hier im Abteil und konnte ungestört ihren Gedanken nachhängen. Die letzten Tage waren nicht einfach gewesen. Ihre Mutter hatte die Nachricht von Dianas Ausbildungsplatz bei der Bundeswehr mit der ihr eigenen Skepsis vernommen. Gefragt hatte sie nicht viel, nur der Zeitpunkt hatte sie interessiert, zu dem Diana von zu Hause weggehen würde. Diana wusste, dass ihre Mutter ihren Freund, den Trump-Anhänger, zu sich in die Wohnung holen wollte. Er würde in Dianas Zimmer ziehen. Da er keine Arbeit hatte und nur sporadisch Geld verdiente – ein Freund besaß eine Disco, in der er immer wieder mal als Türsteher aushalf -, bewohnte er selbst nur ein kleines Zimmer in einer Zweck-Wohngemeinschaft. Mit den anderen Typen dort verstand er sich nicht besonders gut, ebenso wenig, wie er im Allgemeinen mit Menschen auskam. Diana war sich nicht einmal sicher, ob ihre Mutter ihn überhaupt richtig mochte. Aber sie war ihm in einer seltsamen Beziehung verbunden, die damit angefangen hatte, dass sie von ein paar Betrunkenen belästigt und von Didde – so nannte er sich, eigentlich hieß er Dietrich – im wahrsten Sinne des Wortes aus der Situation geboxt worden war. Seitdem hielt ihre Mutter Didde für einen Kavalier, wenn auch für einen, der „Pech gehabt hatte“. Diana fand, dass Didde nicht nur das Glück, sondern auch seine guten Manieren und sein gepflegtes Äußeres – wenn er so etwas jemals besessen haben sollte - verloren hatte. Sie schüttelte sich bei dem Gedanken daran, dass dieser Schlägertyp mit dem großen Kopf und den kleinen Händen – in der Hinsicht passte er tatsächlich gut zum amerikanischen Präsidenten – in ihrem Bett schlafen würde. Sie wusste, dass sie ihr Zuhause endgültig verließ.

Diana hatte darauf bestanden, allein zum Bahnhof zu gehen. Sie hatte alles, was ihr wichtig erschien, in eine überdimensionierte schwarze Tasche gepackt, die sie kaum heben konnte, als sie voll war, aber das musste ja niemand wissen. Sie hatte Übung im Überspielen von Schwäche. Als sie an der Tür stand und ihre Mutter zum Abschied umarmte, fiel ihr auf, wie mager diese war. Unter dem Jogginganzug, der stark nach Zigaretten und etwas nach Zwiebeln roch – in der Küche stand eine Pfanne mit Bratkartoffeln auf dem Herd -, spürte Diana fragile Knochen. Sie sah ihrer Mutter ins Gesicht, das müde und abgezehrt aussah. Nur der ironisch-entschiedene Blick bewahrte sie davor, als abgetakelte alte Schachtel dazustehen. Es lag in diesem Moment des Abschieds aber noch etwas anderes in dem Blick, etwas, das Diana nicht ganz verstand. Sie wartete kurz, und dann kamen sie, die Worte, die Diana mit auf den Weg nahm: „Na ja, rennen kannste ja nu wirklich.“ Diana wusste, was das bedeutete. Es war die erste und einzige Anerkennung, die ihre Mutter ihr jemals zugedacht hatte. Es hieß so viel wie: „Du bist gut. Mach nur, du wirst dein Leben schon packen. Ich traue dir etwas zu.“ So etwas würde ihre Mutter natürlich nie aussprechen. Aber immerhin.

Ganz anders war es mit ihrem Freund gelaufen. Sie hatte Benny erst zwei Tage vor ihrer Abreise erzählt, was sie vorhatte, wohin sie fahren würde. Es war ihr so schwergefallen, sie brachte die Worte kaum heraus. Sie sah sich noch einmal auf Bennys alter Couch sitzen. Sie hatten zusammen Musik gehört, Benny war glücklich, weil er von dem Paketdienst einen festen Vertrag erhalten hatte. Er sah an dem Abend so gut aus, so kindlich und männlich zugleich: sein Haar war noch feucht vom Duschen nach dem Sport, er trug ein altes T-Shirt, das er schon zu Schulzeiten gern angezogen hatte und das Diana an ihm liebte, weil es so hellblau und optimistisch war. Benny berichtete gerade von dem Gespräch mit seinem neuen Chef, der ihn zu sich gerufen, ihm einen Kaffee angeboten und dann gefragt hatte: „Sag mal, Benny, du hast doch nicht etwa Umzugspläne? Das wäre total schade, dann müsste ich das hier nämlich zu einer Kugel formen und da vorn einen Korb landen.“ „Das da“ war Bennys neuer Vertrag. Benny war ganz außer sich über diese coole Art des Leiters der Filiale, ihm eine Anstellung anzubieten. „Was Festes, Mensch, stell dir das mal vor! Und dann diese Frage, ob ich Umzugspläne habe. Mann ey, ich wusste zuerst gar nicht, was das sollte. Ich hör ihn reden und denke, Mann, was will der mir eigentlich sagen. Umzugspläne?“ Das war der Moment, als Diana ganz plötzlich sagte: „Ich habe Umzugspläne, Benny. Ich ziehe nach Hammelburg und werde Soldatin. Vor zwei Wochen habe ich die Zusage gekriegt. Übermorgen geht´s schon los.“ Sie beobachtete, wie es in Bennys Gesicht arbeitete. Er war nicht der Schnellste, war es nie gewesen, schon in der Schule nicht. Es dauerte eine Weile, bis er die Worte so sortiert hatten, dass sie für ihn Sinn machten. Er ließ seine Hände, mit denen er noch gerade durch die Haare gefahren war, langsam sinken. Seine Augen wurden schmal. Aber er sagte nichts. Ganz ruhig stand er da, schaute sie an. Diana wusste plötzlich nicht mehr, was in ihn vorging. „Benny?“, fragte sie vorsichtig. „Hast du gehört? Ich werde Soldatin. Ich gehe weg zur Ausbildung. Ich wollte es dir sofort sagen, Benny, aber ich hab mich nicht getraut.“ Noch immer stand Benny stumm da. Merkwürdig, Diana hatte ihm seine Gedanken immer vom Gesicht ablesen können. Auf einmal war er ein Mensch, den sie kaum zu kennen schien. Endlich sagte er: „Das kommt total plötzlich.“ Mehr nicht, nur diese vier Worte. Diana nickte stumm. Sie wusste nicht, was sie dazu bemerken sollte. Es stimmte: alles kam so plötzlich. Gerade hatten sie noch überlegt, wie sie zu zweit so viel verdienen könnten, dass sie endlich eine eigene Wohnung mieten konnten. Gerade noch hatten sie nichts zueinander sagen müssen und trotzdem genau gewusst, was der andere dachte. Jetzt hatte Benny auf einmal eine Stelle, sie selbst einen Ausbildungsplatz vierhundert Kilometer weit weg. Und das hatte alles verändert. Die Vertrautheit, die Nähe, dieses ganz natürliche Gefühl, zusammen zu gehören, waren einer seltsamen Fremdheit gewichen. Benny und Diana waren mit einem Schlag aus ihrer Symbiose aufgetaucht und hatten sich in zwei getrennte Lebewesen geteilt, die in verschiedene Richtungen davon trudelten. In ihrem Blick zurück lag wortlose Verwunderung.

Es war dann noch gut gegangen an dem Abend. Sie hatten Bier getrunken, weiter Musik gehört und lange geredet. Sie würden beide Geld verdienen. Sie würden sich an Wochenenden und in Urlauben sehen. Natürlich gehörten sie zusammen, das war doch klar. Ihre Pläne, sich eine gemeinsame Wohnung leisten zu können, waren doch schließlich jetzt in greifbare Nähe gerückt. (Aber wo sollte diese Wohnung liegen?, fragte Diana sich im Stillen. Sie wagte nicht, diese Frage auszusprechen. Sie wusste auch nicht, ob Benny ebenfalls an so etwas dachte.) Der Abend war gelaufen wie eine Filmszene: sie reagierten beide auf passende Stichworte, spielten ein Paar, das eine gemeinsame Zukunft plant. Beide blieben sie in der Leinwandhandlung und wagten es nicht, in die Wirklichkeit zu wechseln.

Am nächsten Tag musste Benny lange arbeiten, sie hatten sich nicht mehr gesehen. Und dann war er doch noch am Bahnhof aufgetaucht, mit seinem Paket-Lieferwagen und in seiner braunen Uniform. Es war kurz und absurd gewesen, ihm so Auf Wiedersehen zu sagen. Er schaute ständig auf sein Handy, als würde ihm von dort Rat kommen. Diana starrte auf seine ganz hellblonden Haare und überlegte, ob er jetzt wohl jemanden treffen würde, eine Frau, die diese Haarfarbe auch so sehr mochte, und die nicht zur Bundeswehr ging. Sie umarmten sich, als der Zug einlief. Diana suchte sich einen Platz, verstaute ihr Gepäck, und als sie zum Fenster hinausschaute, war Benny schon weg.

Erinnern

Es war eine lange Fahrt, denn Diana konnte mit ihrer Karte nur Züge des Nahverkehrs benutzen. Fast acht Stunden würde sie unterwegs sein, viermal musste sie umsteigen, das erste Mal schon nach einer guten halben Stunde in Oberhausen. Hier kannte sie sich gut aus, sie war oft mit Freunden im Kino oder in der Disco in Oberhausen gewesen. Einmal hatte sie sich hier sogar zu einem Vorstellungsgespräch bei einer Firma eingefunden, das war in ihrem letzten Schuljahr gewesen. Die Firma betrieb einen Online-Handel für Büromaterial, und bei der Stelle ging es um Beschwerdemanagement. Als Diana die Einladung zum Vorstellungsgespräch erhielt, konnte sie ihr Glück kaum glauben. Ganz kurz hatte sie wirklich angenommen, irgendeine höhere Macht hätte eine gütige Kontrolle über ihr Leben beschlossen. Sie würde nach der Schule in einem Büro arbeiten, Geld ausgeben können für Kleidung, für eine Wohnung mit Benny, vielleicht sogar für ein Auto? Und dafür müsste sie lediglich Leute, bei denen etwas nicht passte, anhören und die Bestellungen korrigieren. Sie würde es schaffen! Und dann die Ernüchterung: zunächst, als Diana die vielen anderen Bewerberinnen und Bewerber sah, die alle in der riesigen Halle warteten, denn es gab einen Online-Test, den alle gleichzeitig machen mussten. Sie warteten länger als 40 Minuten, und in der Zeit erfuhr Diana, wie viele der anderen einen Realschulabschluss hatten, einige sogar Abi. Die Streberin neben ihr hatte sich sogar speziell auf den Online-Test vorbereitet, kannte mehrere Software-Systeme für den Bereich „Customer Relations“. Andere hatten bereits in ähnlichen Bereichen gejobbt oder Praktika gemacht („absolviert“, so nannte der eingebildete Typ mit dem gelackten Haar das). Jedenfalls schienen alle selbstbewusster, schneller und einfach besser zu sein als sie selbst. Als Diana vor dem Online-Test saß, wusste sie bereits, dass sie scheitern würde. Sie starrte auf die Erklärungen zur Einführung in die Situation, die sie zu bearbeiten hatte. Es war einfaches Deutsch, keine Fremdwörter, kein Englisch, aber sie hatte das Gefühl, nichts zu verstehen. Der Schweiß brach ihr aus. Rechts und links von ihr klickten die anderen Bewerber schon auf die „Weiter“-Taste, lasen konzentriert, hielten ihre Finger schwebend über der Tastatur, bereit, mit ihrem Wissen und ihrer Intelligenz loszulegen. Diana hatte einen Kloß im Hals. Das Mädchen neben ihr wippte unaufhörlich mit dem Fuß. Sie trug schmale, flache, perlmuttfarbene Pumps. „Das ist Mega-Kacke hier“, dachte Diana. Sie erinnerte sich an eine Episode von Mr. Bean, die sie in der Schule gesehen hatte. Mr. Bean muss einen Test schreiben und weiß nichts. Er versucht, bei seinem Nachbarn abzuschreiben, ohne die Aufmerksamkeit des Aufsehers auf sich zu ziehen. Diana fand diesen Sketch schon damals nicht lustig. Sie wusste viel zu genau, wie es sich anfühlte, ratlos vor einer unverständlichen Aufgabe zu sitzen. Sie fühlte sich von Mr. Bean und seinem Quatsch auf den Arm genommen. Diana wusste, dass sie eigentlich schnell war, sie kam in der Schule gut zurecht und hatte selten Probleme, etwas zu verstehen. Aber sie hasste es, geprüft zu werden. Alles ging ihr dabei auf die Nerven: Die Regeln, die lange erklärt wurden: wer wann auf Toilette durfte, welche Stifte man benutzen sollte, wie das mit Handys war, dass man bei Fragen die Hand heben oder leise nach vorn zum Lehrer ans Pult gehen sollte. Das gewichtig-dramatische Austeilen der Aufgabenblätter. Das ängstliche Beobachten der Mimik derer, die schon wussten, welche Schwierigkeiten da der Bearbeitung harrten. Dann die hämischen Blicke der Musterschüler, die meinten, immer alles besser zu können. Die unerträgliche Stille während der Prüfung, die nur durch das Geraschel des Papiers unterbrochen wurde, oder durch die Ess- und Trinkgeräusche von Mitschülern, die nicht mal eine Stunde ohne Nahrungsaufnahme dasitzen konnten. Und dann die verhassten regelmäßigen Ankündigungen, wie viel – oder wie wenig – Zeit einem noch blieb. All das war schrecklich, eine bösartige Qual, ausgedacht von einem übellaunigen Prüfungsteufel, der wahrscheinlich unsichtbar in einer Ecke saß und sich in sein rotes Fäustchen mit langen, schwarzen Nägeln lachte. Diana musste immer mehr als nur gut vorbereitet sein, um diese Tortur zu überstehen und vorzeigbare Ergebnisse zu liefern.

Aber auf den Online-Test in ihrem Vorstellungsgespräch hatte sie sich nicht weiter vorbereitet. Wie unschuldig war sie gewesen: zu glauben, die Prüfungen seien auf die Schule beschränkt! Hier war es sogar noch schlimmer, denn in der Schule kannte man wenigstens Zeitpunkt und Inhalt der Prüfung, zumindest in den meisten Fällen. Außerdem gehörte die Schule doch zu einer Zeit vor dem eigentlichen Leben, sie diente der Vorbereitung. Diana hatte sie immer als eine unvermeidliche Instanz gesehen: unangenehm, aber vorübergehend. Sie hatte angenommen, sie würde nie wieder eine Prüfungshölle durchleiden müssen, sobald sie die Schule verlassen hätte. Das Vorstellungsgespräch hatte ihr das Gegenteil bewiesen. Es würde immer und immer wieder Prüfungen geben. Sie würde immer wieder dasitzen, zwischen anderen Menschen, in unerträglicher Stille, angefüllt nur mit dem hörbaren Fortschritt der anderen und mit ihrem eigenen Herzschlag.

Diana hatte schließlich den Test einfach abgebrochen. Im Gegensatz zur Schule war zumindest das hier möglich. Sie war aufgestanden und hatte die Halle verlassen, in gerade, stolzer Haltung, den Kopf hoch erhoben. Das war in Oberhausen gewesen. Oberhausen, Ort für Partys, Ort der Schmach. Jetzt war es die letzte Station im Ruhrgebiet.

Fahren

Diana hatte geschlafen. In dem sicheren Wissen, dass zwischen Oberhausen und Koblenz, wo sie wieder würde umsteigen müssen, mehr als zweieinhalb Stunden lagen, hatte sie sich entspannt zurückgelehnt. Sie saß in einem etwas altmodischen Abteilwagen. Ihr einziger Mitreisender war ein älterer, missmutig aussehender Mann, der sie einmal kurz musterte und dann wortlos dasaß und aus dem Fenster schaute. Diana steckte die Kopfhörer an ihr Handy, wählte eine Gruppe aus, die Benny immer sehr gemocht hatte: Imagine Dragons mit „Whatever it takes“. Aber schon nach kurzer Zeit sank ihr Kopf gegen das Polster.

Diana lief eine Straße entlang. Es war ganz offensichtlich Dortmund, obwohl die Häuser ihr fremd waren. Aber sie wusste, dass es Dortmund sein musste, weil sie auf dem Weg zu Jane war. Unglaublich viele Menschen liefen an ihr vorbei. Ein kleines Mädchen mit ganz langen, blonden Haaren, das trotz des Schnees ein dünnes Sommerkleid trug, bewegte sich über den Gehsteig mit jenem schwingenden, unbekümmerten Schritt, wie ihn nur Kinder haben, die noch in ihrer heilen Welt geborgen sind. Diana schaute ihr fasziniert zu, wie sie mühelos an den vielen anderen Passanten vorbeitänzelte, ohne jemanden zu berühren. Ihre runden Augen strahlten vor Freude. Ihre Füße steckten in billig wirkenden Plastiksandalen, aber auch die konnten die zauberhafte Erscheinung nicht zerstören. Jetzt war sie neben Diana, ihre schwingenden Haare berührten sie ganz leicht, ein zarter Hauch. Dann war sie an ihr vorbei. Als Diana sich umwandte, um ihr nachzuschauen, wandte auch das kleine Mädchen den Kopf. Noch lächelte sie fein, doch auf einmal verzogen sich ihre Lippen zu einer Grimasse. Das ganze schmale Gesicht wurde zu einer bösartigen, gemeinen Fratze. Sie riss den Mund weit auf, zeigte glitzernde, scharf aussehende Zähne und stieß einen unendlich tiefen, markerschütternden Schrei aus. Dazu zeigte sie mit dem Finger voller Wut auf Diana. Diana spürte den Schock ihren ganzen Körper durchlaufen und ihr buchstäblich die Haare zu Berge stehen lassen. Sie wollte sich abwenden, trat etwas unbedacht zur Seite und wurde sofort angerempelt. Flüche und Beschimpfungen wurden über ihr ausgeschüttet. Ein bulliger Kerl im T-Shirt – alle außer ihr waren gekleidet, als herrschten Hitzetemperaturen – packte sie an den Haaren und riss sie nach hinten. Diana wand sich mit einer kraftvollen Drehung aus seinem Griff und rammte ihm mit voller Wucht ihr Knie in den Magen. Als er sich würgend auf dem Gehsteig krümmte, war sie schon weg. Sie lief. Sie rannte um ihr Leben. Ihre Füße fanden den Weg von ganz allein, sie sprang über Hindernisse hinweg, umrundete leichtfüßig Autos, schlug einen Haken, als eine Frau ihren Stöckelschuh auszog und ihn ihr ins Gesicht schleudern wollte, wehrte den Angriff von zwei halbwüchsigen Jungen während des Laufs ab, die sich ihr in den Weg stellten und mit Tennisschlägern ausholten. Wie ein geschmeidiges Tier überquerte sie die Straße, rettete sich zweimal mit einem Sprung vor dem Überfahrenwerden. Dann stürmte sie in einen Park, und plötzlich war sie auf ihrer Laufstrecke hinter den Gleisen in Mengede. Ihre Fäuste waren geballt. Sie würde nie mehr aufhören zu laufen, denn wenn sie das tat, würde sie sterben. Jane würde das verstehen und nicht auf sie warten.

Mit einem Ruck kam Diana zu sich. Sie hatte wohl im Schlaf kurz aufgeschrien, denn der Mann am Fenster sah sie irritiert und vorwurfsvoll an. Ihr Atem ging so schwer, als sei sie tatsächlich gelaufen, und ihr Brustkorb fühlte sich eng an. Diana bemerkte, dass ihr Handy zu Boden gefallen war. Sie hob es auf und überprüfte, ob alles in Ordnung war. Zwei Nachrichten waren eingegangen. Eine davon war von Jane. Diana drückte sie sofort weg.

Die Landschaft hatte sich inzwischen verändert. Der Zug folgte auf hohen Felsen und in steilen Kurven dem Verlauf eines großen, wasserreichen Flusses: des Rheins, wie Diana wusste. Auf der anderen Seite türmten sich hohe Felsen, von Zeit zu Zeit gekrönt von Burgen und Türmen. Frachtschiffe mit bunten Containern malten eine weiß-bräunliche Bahn in das Wasser. Die kleinen Dörfer im Tal wirkten schäbig und altmodisch. Es regnete.

In Koblenz stieg Diana zum dritten Mal um. Ihr Zug hatte ziemlich viel Verspätung, sie musste sich beeilen, um den Anschlusszug zu erreichen. Mit der großen Tasche über der Schulter, die kleine vorn an die Brust gepresst, schlängelte sie sich geschickt durch die Menge der Passagiere. Die Treppe zum Bahnsteig nahm sie in großen Sätzen. Eigentlich hatte sie sich hier etwas Proviant kaufen wollen, aber dazu blieb nun keine Zeit. Sie hörte bereits die Türen ihres Zuges zuschlagen, als sie die letzten Stufen erklomm. Der Schaffner, die Pfeife im Mund und den Arm schon beinahe erhoben, sah sie, zögerte kurz – und schon jagte Diana auf die nächste Tür zu, riss ohne innezuhalten an dem Griff und wuchtete sich selbst und ihr Gepäck bereits hinein, während die Tür noch nach außen schwang. Als sie sich, völlig außer Atem, aufrichtete und nach einem Platz umsah, bemerkte sie die drei jungen Männer, die mit ihren großen, grünen Rucksäcken vor der Treppe standen, die in den oberen Zugteil führte. Sie applaudierten und pfiffen anerkennend. Alle drei trugen Militär-T-Shirts – Diana erkannte das Muster „woodland“ von ihren Recherchen auf entsprechenden Websites. „Nicht schlecht, diese Nummer!“, rief einer der Männer, ein etwas kurz geratener Typ mit kräftigen Oberarmen, der ein wenig wie ein junger Tom Cruise aussah. Diana musterte die drei kurz, senkte den Kopf wie zu einer stummen Begrüßung und trat dann, ohne etwas zu erwidern, an der kleinen Gruppe vorbei in das untere Abteil. Im Rücken spürte sie die Enttäuschung, die sie durch ihre spröde Reaktion auslöste. Einer der Männer rief ihr verärgert etwas nach, verkleidet als spöttische Bemerkung, die sie aber überhaupt nicht traf. Sie hörte nicht einmal richtig hin. Diana grinste innerlich: Sie erinnerte sich an ihre Mutter und ihre Art, Männer – und auch Frauen – schnell auf Abstand zu bringen. Vielleicht hatte sie das von ihr übernommen. Hoffentlich hatte sie nicht auch andere Neigungen übernommen, dachte sie weiter. Zum Beispiel eine Schwäche für Loser-Typen. Benny jedenfalls hatte nicht zu dieser Sorte gehört.

Während der Zug sich in Bewegung setzte, ließ Diana sich auf ihren Sitz fallen und musterte kurz die anderen Mitreisenden an dem Vierertisch. Ein älteres Ehepaar saß sich an den beiden Fensterplätzen gegenüber. Sie sahen sich ausgesprochen ähnlich: beide hatten kurzes, graues Haar, lange, graue Gesichter und trugen unscheinbare, grau-braune Kleidung. Vor ihnen lagen Päckchen mit belegten Broten und Obst. Die Frau aß Brote mit Käse, der Mann Brote mit Wurst. Banane- und Apfelstückchen aßen beide. Auf dem gegenüberliegenden Platz saß zunächst niemand. Eine leuchtend-rosafarbene Jacke und ein auffälliger Schal mit rot-goldenem Muster zeigten aber an, dass der Sitz nicht frei war. Nach etwa zehn Minuten kam eine junge Frau mit schwarzen, sehr kurz und modern geschnittenen Haaren und ausgesprochen rot geschminkten Lippen zur Tür herein, in der Hand einen Becher mit dampfendem Inhalt. Sie taxierte Diana kurz und scharf, bevor sie sich setzte und dann sofort unter großen Kopfhörern verschwand, um mit geschlossenen Augen einer Musik zu lauschen, von der nicht ein einziger Ton unter den Hörern hervordrang. Eine Weile überlegte Diana, was diese Frau wohl hören mochte. Sie konnte es sich nicht vorstellen.

Es war eine lange Fahrt.

Je weiter der Zug nach Süden fuhr, je weiter Diana sich von Dortmund entfernte, von ihrer Mutter, von Benny, Jane und allen Menschen, die sie kannte, desto bewusster wurde ihr, dass sie nicht nur in ein neues Leben unterwegs war. Sie war auch auf dem Weg zu einer neuen Diana. Alle Zusammenhänge, in denen sie bisher eine Rolle innegehabt hatte, waren verschwunden, und damit auch die Schülerin, die schnell verstand, und ebenfalls die Prüfungsabsolventin, die paralysiert von einer Aufgabe saß. Diana, die Freundin von Benny und Vertraute von Jane, gab es nicht länger, und genauswenig existierte Diana, die Tochter einer vom Leben verhärteten Frau. Niemand, weder hier im Zug, noch in der neuen Truppe von Auszubildenden bei der Bundeswehr, wusste, wer sie war. Natürlich waren ihre Testergebnisse bekannt. - Diana hatte in den Tests überdurchschnittlich gut abgeschnitten. Sie wusste selbst nicht, warum. Irgendwie hatte sie einfach unbedingt durchkommen wollen. Ihr Wunsch zu bestehen war stärker gewesen als ihre Prüfungslähmung. Sie hatte sich nicht einmal bemühen müssen, Konzentration aufzubringen. Aufgabe für Aufgabe hatte sie gesichtet, bearbeitet und abgeschlossen. Sie war schneller fertig als alle anderen. Da hatte sie zum ersten Mal verstanden, was Konzentration bedeutete: kein Kampf gegen den eigenen Willen, sondern die natürliche Hingabe an etwas, das wichtig war. –

Aber abgesehen von den Prüfern, die sie wahrscheinlich nie mehr treffen würde, wusste keine Person in Hammelburg auch nur das Geringste über sie, über Diana, die große Unbekannte. Diana wurde sich plötzlich der Anwesenheit der anderen Passagiere bewusst: Menschen, die hier saßen und auf Handys, IPads oder Notebook-Bildschirme starrten, manchmal auch aus dem Fenster sahen, mit Sitznachbarn sprachen, schliefen. Unter all diesen Fremden war sie vollkommen allein und auf eine fast beängstigende Weise frei. Diana begriff, dass sie jetzt, in diesem Moment, alles sein konnte, was sie wollte.

Bremsen

Es war ganz kurz von Gemünden, dem letzten Umsteigebahnhof für Diana. Die Landschaft war jetzt wieder anders als zuvor: Bewaldete Hügel erhoben sich zu allen Seiten. Die Dörfer mit ihren Häusern aus rötlichem Sandstein wirkten bäuerlich. Die Bahnstrecke führte wieder an einem Fluss entlang, - dem Main, wie Diana anhand ihrer App feststellte. Der Frühling war hier schon weiter, es war sicherlich auch deutlich wärmer als zumindest an dem Morgen noch in Dortmund: die Bäume waren von einem grünen Schimmer überzogen, erste Knospen zeigten sich an Ästen. In Vorgärten blühten Schneeglöckchen und Narzissen.

Als der Zug bremste, wurde Diana nach vorn geschleudert, so plötzlich und hart, dass sie den Schwung erst realisierte, als sie bereits mit dem Kinn auf dem Tisch aufschlug. Schmerz durchzuckte ihren Kiefer. Sie verstand zunächst nicht, was passiert war, dachte sogar kurz, einer der Männer, die sie beim Einsteigen hatte abblitzen lassen, sei von hinten an sie herangeschlichen und habe ihr einen harten Schlag gegen den Rücken versetzt. Doch dann hörte sie das Kreischen der Zugbremsen. Sie sah aus dem Augenwinkel, wie die Landschaft draußen nicht mehr gleichförmig vorbeiglitt, sondern sich in Schüben nach hinten und nach vorn zu bewegen schien. Immer noch begriff sie nicht wirklich, was geschah. Im Zeitlupentempo hob Diana ihren Kopf vom Tisch, sah ihrer kleinen Handtasche zu, wie sie, zusammen mit einem Schirm, einer Aktentasche und einem kleinen Rucksack, von der Gepäckablage über ihrem Kopf auf den Boden stürzte. Auf einmal traf sie die Erkenntnis: Das ist ein Zusammenstoß. Der Zug kracht gegen einen anderen Zug! Diana schaffte es irgendwie, sich halb umzuwenden und die Metallstange der Ablage für großes Gepäck zu greifen, die sich unmittelbar hinter ihrem Sitz befand. In ihrem Kopf war nur noch für ein Wort Platz, das in unzähligen Echos widerhallte: Festhalten! Festhalten! Festhalten!

Und dann brach in dem Abteil das Chaos aus. Die Frau ihr gegenüber, die mit dem kurzen, schwarzen Haar und den sehr rot geschminkten Lippen, war, da sie gegen die Fahrtrichtung gesessen hatte, zunächst nur gegen ihre Rücklehne gepresst worden. Dann war sie aber aufgesprungen, wohl aus einem Fluchtimpuls heraus, und beim nächsten Bremsen flog sie weit durch das Abteil. Frauen kreischten laut auf, Männer schrien. Gepäckstücke wirbelten durch die Gänge, ein Koffer aus Metall landete mit lautem Knall auf dem Nachbartisch, sprang auf und ließ Unmengen an bunter Unterwäsche herausfliegen. Diana, die die Metallstange wie mit einem Schraubstock umklammerte, fragte sich seltsam ruhig, wer wohl diese Berge an Slips und Hemden eingepackt hatte, und wohin sie transportiert werden sollten. Sie bemerkte auch, dass das graue Ehepaar nicht mehr an dem Tisch saß. Wo waren sie? Diana hatte nicht gesehen, dass sie ausgestiegen waren. An dem Tisch auf der anderen Seite des Ganges fluchte ein älterer Mann, unaufhörlich und mit einem Wortschatz, den Diana ihm niemals zugetraut hätte. Der Boden des Abteils war übersät von Handys und Notebooks, die wie zum Leben erwachte wildgewordene Wesen hin- und herzischten. Mehrere Menschen lagen, offenbar verletzt oder bewusstlos, auf Tischen und über Sitzlehnen.

Plötzlich war es vorbei, ebenso schnell, wie es begonnen hatte. Ein unerträglich schrilles Geräusch hatte alle anderen Laute erstickt. Als es endlich abbrach, überlegte Diana zunächst, ob sie vielleicht taub sein könnte, so still war es. Dann aber hörte sie Schreie und Rufe aus anderen Zugteilen. Es roch stark nach verbranntem Plastik. Diana brauchte einige Sekunden um zu begreifen, dass der Zug wirklich stand und nichts mehr durch das Abteil flog. Nicht nur das: es gab überhaupt keine Bewegung hier. Diana stand da, ihre Hand umklammerte immer noch die Metallstange, an der sie sich festgehalten hatte. Alles um sie herum war stumm und reglos. Es sah aus wie ein makabres Stillleben, wie die eingefrorene Szene eines Films, bei dem man auf „Pause“ gedrückt hat, weil man auf die Toilette gehen muss oder weil man etwas zu trinken aus der Küche holen möchte. Die am Boden liegenden Menschen rührten sich nicht, es war, als hätten sie sich miteinander abgesprochen: abwarten, ob noch etwas kommt! Nicht bewegen! Nur flach atmen! Eine Frau lag auf dem Rücken, sie schaute ganz friedlich an die Decke, ihre Haare waren zu beiden Seiten ihres Kopfes ausgebreitet. Diejenigen, die saßen oder standen, blickten aus großen Augen ratlos um sich, als wüssten sie nicht genau, was sie jetzt machen sollten. Elektronische Geräte lagen zerbrochen an der Schiebetür, nutz- und leblos. Und auf diversen Sitzen fanden sich bunte, geblümte, gestreifte oder karierte Unterhosen. Wenn es nicht so geschmerzt hätte, dann hätte Diana gelacht.

Minuten später knackte der Lautsprecher. Es rauschte, dann ertönte eine Art Hupe. Dann knackte es wieder. Eine atemlose Spannung erfüllte das Abteil. Diana spürte, wie jeder einzelne Mensch lauschte. Jeder hier schien nur noch einen Sinn zu besitzen: das Gehör. Blicke trafen sich, aber die Bilder blieben an der Netzhautoberfläche. Nichts wurde an das Gehirn weitergeleitet, nichts war von Bedeutung, mit Ausnahme der akustischen Signale, die aus den Lautsprechern kamen. Der ältere Herr, aus dessen Mund noch vor kurzem ein Fluch nach dem anderen geflossen war, saß da und neigte den Kopf leicht zur Seite, als wolle er sein Ohr der Quelle zuwenden, aus der die Worte der Erlösung kommen würden. Die Frau, die am Boden lag und die gerade noch heiter-ungerührt in die Luft geblickt hatte, zeigt auf einmal eine gesammelte Konzentration und sah aus, als würde sie sich sofort erheben, wenn sie nur endlich von einer blechernen Stimme dazu aufgefordert würde. „Das ist es“, dachte Diana. „Wir warten alle darauf, dass man uns sagt, was wir jetzt tun sollen.“ In diesem Moment brach das Rauschen ab.

Es dauerte nochmals einige Minuten, bis die Menschen verstanden, dass nichts mehr kommen würde. Kein Wort der Erklärung, der Unterstützung, der Anweisung würde zu ihnen gelangen, jedenfalls nicht über die Lautsprecher. Diana bemerkte plötzlich, dass ihre Hand, die immer noch die Metallstange umklammerte, schmerzte. Sie ließ los und spürte, wie das Blut in die verkrampften Finger floss. Dann rief jemand: „Lasst uns die Türen öffnen!“ Die Worte brachen den Bann der Stille. Auf einmal begann alles zu atmen. Menschen, die am Boden oder über Lehnen gelegen hatten, rührten sich, auch die Frau in der Mitte des Abteils stand auf und prüfte ihre Glieder auf Beweglichkeit. Diana fand sich plötzlich über der jungen Frau kniend, die ihr gegenüber gesessen hatte und durch das Abteil geflogen war. Sie war bis an die Abteiltür gerutscht und lag mit verkrümmten Armen da. Diana fühlte ihren Puls, fand ihn normal und sprach die Frau an. „Wie geht es Ihnen? Können Sie sprechen?“ Die Frau öffnete die Augen, blickte benommen um sich, dann klärte sich ihr Blick und sie stöhnte. „Mein Arm!“ Diana berührte ihren rechten Arm, der in einem merkwürdigen Winkel nach hinten ragte. Die Frau schrie auf. Diana war sicher, dass der Arm gebrochen war und rief laut: „Ist hier ein Arzt?“ Zu ihrem Erstaunen trat der ältere Herr mit den ausgereiften Fluch-Kenntnissen zu ihr. Diana sah, dass er sich um die Frau kümmerte, wandte sich ab und entdeckte plötzlich ihr eigenes Spiegelbild in der Abteiltür. Ihr Kinn war geschwollen und dunkelrot verfärbt. Sie probierte, ob sie es bewegen konnte: es schmerzte zwar, ging aber. Gebrochen war also wohl nichts. Ein Zahn hatte sich in ihrem Unterkiefer gelockert, das spürte sie. Mehr war ihr wohl nicht passiert. Das Geräusch von splitterndem Glas ließ sie herumfahren. Zwei Männer, ein sehr junger, schlaksiger Typ und ein älterer Mann mit Bart, hatten mit dem Notfallhämmerchen ein Fenster eingeschlagen. Glasbrocken, die aussahen wie Diamanten, fielen in das Abteil und nach draußen auf die Schienen. Schnell war die Öffnung groß genug für einen Ausstieg. Diana war, nach den beiden Männern, die dritte Person, die durch das zerschlagene Fenster nach draußen auf die Schienen stieg. Staunend blickte sie sich um. Es war ein groteskes Bild der Gegensätze, das sich ihr bot.

Die Bahnstrecke führte hier mitten durch Felder. In einiger Entfernung glitzerte der Main in der nachmittäglichen Sonne. Ein blauer Himmel mit großen, weißen Wolken spannte sich über die Szenerie. Es war kalt, aber die Vögel sangen, und es sah aus wie Frühling.

Der Zug, in dem sie gefahren war, bestand aus fünf Waggons. Sie selbst hatte in dem dritten Waggon gesessen. Bis auf das zerbrochene Fenster war dieser Wagen unbeschädigt. Der zweite Wagen, unmittelbar vor Dianas Abteil, sah zerknautscht aus, als hätte jemand mit großer Hand das Metall der Außenhaut umfasst und eingedrückt. Der erste Wagen und die Lokomotive sahen noch schlimmer aus. Hier hatte die große Hand zugepackt, die Außenwände eingedrückt, Fenster zerschlagen, Türen ausgehebelt und alles einmal durchgeknetet. Dianas Blick wanderte ganz nach vorn. Eine kleine, orangefarbene Lok stand quer vor dem Zug. Sie sah aus wie eine jener Maschinen, mit denen Gleise gesäubert werden. Sie war offensichtlich die Ursache des Unglücks. Der Zugführer hatte den eigenen Zug in die kleine Lok gefahren und sie über das Gleis hinausgeschoben. Diana wandte sich um. Jetzt erst sah sie, dass die letzten beiden Zugwagen umgekippt waren und seitlich auf den Gleisen lagen. Sie waren wahrscheinlich durch den starken Aufprall und das Bremsmanöver so stark ins Schwanken geraten, dass die Räder sich von den Schienen gelöst hatten und die Wagen einfach zur Seite gefallen waren. Dabei hatte ein Stromabnehmer auch eine Oberleitung mitgerissen. Sie hing wie eine stählerne, ihrer Dienste entledigte Peitsche hinab. Diana bildete sich ein, Funken von dem zerrissenen Ende aufstieben zu sehen. Überall kletterten Menschen aus dem zerstörten Zug. Und dann war die Luft auf einmal erfüllt von Polizeisirenen und Martinshörnern. Kranken- und Feuerwehrwagen näherten sich mit Blaulicht. Bewohner der nahen Häuser hingen aus ihren Fenstern, andere kamen schon angelaufen. Es war unfassbar laut.

Diana stand da, neben dem unzerstörten dritten Waggon, jenseits der Gleise. Gleich würde es losgehen mit der Rettung von Insassen, dem Abtransport der Verletzten. Was sollte sie machen? Sie sah, dass überall bereits Männer und Frauen, die es nach draußen geschafft hatten, anderen Passagieren halfen. Eine alte Dame wurde von zwei Männern vorsichtig nach draußen gehoben, eine andere Frau führte sie zu einer sicheren Stelle auf der Wiese, wo bereits zwei Kinder und ein offenbar verletzter Mann saßen oder lagen. Diana befühlte ihr Kinn. Es schien ihr nicht stärker geschwollen zu sein als zuvor. Sie fühlte sich kräftig und fit. Wieviel Uhr mochte es wohl sein? Dianas Handy lag irgendwo zerschmettert im Abteil. Sie überlegte. Um kurz nach 17 Uhr sollte der Zug in Gemünden einlaufen, und bis dahin war es nicht mehr lange gewesen. Wahrscheinlich war es noch keine halb sechs Uhr. Es kam ihr zwar unendlich lang her vor, dass sie mit dem Blick auf ihr Handy in einem ganz normalen, fahrenden Zug gesessen hatte, darauf wartend, dass sie ihren letzten Umsteigebahnhof erreichte. Doch in Wirklichkeit waren sicher nicht mehr als zwanzig Minuten vergangen. Diana schreckte auf, als eine wütende Stimme sie anrief: „He, du da! Pack hier mal gefälligst mit an!“ Sie sah den bärtigen Mann, der das Fenster in ihrem Abteil eingeschlagen hatte, ärgerlich winken. „Hier gibt es Verletzte und jede Menge zu tun! Rumstehen und träumen kannst du später!“ Er deutete auf die Tür des Waggons, die irgendjemand mittlerweile geöffnet hatte. „Hol die raus, die nicht allein gehen können!“ Automatisch setzte Diana sich in Bewegung. Die nächste halbe Stunde kam sie nicht mehr zum Nachdenken. Sie half einem jungen Mann, in dem sie den jungen Tom Cruise wiedererkannte, der in dem Militär-T-Shirt im Eingang gestanden und gepfiffen hatte. Ein Tuch um eine offenbar stark blutende Kopfwunde gewunden – das Tuch war bereits rot durchtränkt -, taumelte er unsicher durch den Gang, Diana musste ihn von hinten an beiden Armen packen und nach draußen führen, wo er sich sofort übergab. Dann legte sie ihn zu der Gruppe mit der alten Dame, den Kindern und den anderen Verletzten und bat die Kinder, etwas auf ihn aufzupassen. Anschließend half Diana zwei verängstigten und weinenden Teenagern nach draußen, danach einem sehr alten Mann, der kaum gehen konnte und stark nach Alkohol roch, schließlich einer Frau, die deutlich unter Schock stand. Sie wurde draußen von einem Sanitäter in Empfang genommen. Die Hilfe war da. Unzählige Krankenwagen standen mitten auf dem Feld. Die Feuerwehr arbeitete an den Wagen, die umgefallen oder stark beschädigt waren. Die Polizei hatte die Gleise komplett abgesperrt. Als Diana aufsah, bemerkte sie, dass auch die Straße, die in einigen Metern Entfernung lag, mit Absperrungen versehen war. Es liefen viele Menschen hier herum: Verletzte, die aber noch gut gehen konnten. Sanitäter mit Bahren, auf denen schwerer Verletzte lagen. Polizisten, Feuerwehrleute. Männer und Frauen in Zivil, die Ärzte sein mochten, unverletzte Passagiere, hilfreiche Dorfbewohner oder einfach nur Neugierige. Diana merke plötzlich, dass sie müde war. Dort hinten gab es einen Krankenwagen, an dem Tee ausgeschenkt wurde. Diana ging dorthin, half einer Dame, die ebenfalls in die Richtung ging und dabei in ihren hohen Schuhen ständig stolperte. Dann nahm sie einen Papierbecher von dem Sanitäter entgegen und trank dankbar die heiße, süße Flüssigkeit. Sie setzte sich auf einen Baumstumpf in der Nähe und schloss kurz die Augen. Dabei hörte sie die nahe Kirchturmuhr schlagen. Sie zählte mit: sieben Schläge. Konnte es tatsächlich schon sieben Uhr abends sein? Sie sollte jetzt in Hammelburg sein. Man würde sie am Bahnhof abholen, sie und andere, die um diese Uhrzeit ankommen würden, um ihr neues Leben zu beginnen.

Diana dachte nach. Wie weit war es von hier bis Hammelburg? Etwa eine halbe Stunde mit dem Zug. Der Zug fuhr durchschnittlich 90 bis 100 Kilometer pro Stunde. Das heißt, es müssten etwa 40 bis 50 Kilometer sein. Wenn man lief, würde man bei einem Tempo von etwa zwanzig Kilometern pro Stunde also vielleicht drei Stunden benötigen, mit ein paar Pausen. Diana sah sich um. Hier gab es für sie nichts mehr zu tun. Die professionellen Rettungskräfte waren im Einsatz. Was jetzt folgen würde, wären unnötige Untersuchungen durch Ärzte, polizeiliche Befragungen, eine Nacht im Krankenhaus. Und ein erzwungener Anruf bei ihrer Mutter. Diana wollte das alles nicht. Sie wollte ihr neues Leben beginnen. Sie wollte nach Hammelburg.

Laufen

Das Laufen fühlte sich vertraut an. Die Straße war hart, aber glatt und störungsfrei. Die Luft war angenehm kühl. Das Kinn schmerzte, aber das ließ sich aushalten. Diana wusste, dass sie der Straße folgen musste. Sie hatte in dem Ort, der der Unglücksstelle am nächsten lag, ein Hinweisschild nach Hammelburg gefunden. Dann war sie losgelaufen. Sie lief schnell. Es waren anfänglich noch ziemlich viele Autos auf der Straße gewesen. Immer mal wieder hatte jemand angehalten und sie gefragt, ob sie mitgenommen werden wollte. Diana schüttelte nur immer stumm den Kopf. Nach einem Blick auf ihr Kinn – es musste schrecklich aussehen – gaben die hilfsbereiten Fahrer dann wieder Gas. Jetzt, nach einer Stunde, hatte der Verkehr nachgelassen. Es dämmerte stark, bald würde es ganz dunkel sein. Die Straße führte hier durch einen Wald steil nach oben. Diana lief ruhig und kraftvoll. Der Schweiß stand auf ihrer Stirn. In zwei Stunden würde sie ankommen.


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