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Wolf

Mittwoch, 31. Januar 2018

Das Fahrrad stellt ein wichtiges Verkehrsmittel in Mirhampton dar, zumindest von März bis Oktober, den Monaten des gemäßigten Wetters. Es gibt im Mittleren Westen wenige Städte, in denen so viel Rad gefahren wird. Niemand weiß genau, warum Mirhampton hier eine Ausnahme bildet. Einige der ganz alten Bewohner erzählen, es habe in den schlimmen vierziger und fünfziger Jahren einen Kommunisten hier gegeben, der zum Streik gegen die Autofabriken in der ganzen Gegend aufgerufen habe.


Das Fahrrad stellt ein wichtiges Verkehrsmittel in Mirhampton dar, zumindest von März bis Oktober, den Monaten des gemäßigten Wetters. Es gibt im Mittleren Westen wenige Städte, in denen so viel Rad gefahren wird. Niemand weiß genau, warum Mirhampton hier eine Ausnahme bildet. Einige der ganz alten Bewohner erzählen, es habe in den schlimmen vierziger und fünfziger Jahren einen Kommunisten hier gegeben, der zum Streik gegen die Autofabriken in der ganzen Gegend aufgerufen habe. Er kritisierte die Euphorie der Menschen, die in der neuen Industrie Arbeitsplätze, Geld und Wohlstand sahen. Mit der Zeit untergrub er sogar die Begeisterung für Automobile und die Chancen der Massenherstellung, und zwar durch Berichte von Unfällen in Produktionshallen, von Armut und Ausbeuterei. Sein Redetalent, so hört man von denen, die ihn noch kannten, sei außergewöhnlich und sein Revolutionsgeist stark gewesen. David Hinchley, so hieß er, habe vor nichts und niemandem Angst gehabt, und das in einer Zeit, die geprägt war von Furcht. Er mobilisierte in Mirhampton die Massen (zumindest die Väter und Söhne, also an die einhundert Mann) und rief sie zu Protesten gegen unmenschliche Arbeitsbedingungen und mangelnde Sicherheit am Arbeitsplatz auf. Angeblich begegnete er sogar in Detroit einmal Henry Ford selbst, spuckte ihm spontan einen Kaugummi vor die Füße und rief dabei aus: „Das nächste Mal fliegt er dir ins Gesicht!“ Dafür gibt es jedoch keine gesicherten Beweise, es kann auch ein Gerücht sein.

Es mag jedenfalls mit einer kollektiven Erinnerung dieser frühen Auflehnung gegen die Automobilindustrie zusammenhängen, dass die Bewohner von Mirhampton schon seit mindestens zwei Generationen ungewöhnlich gern und ungewöhnlich häufig mit dem Fahrrad unterwegs sind. Nicht nur Studenten flitzen über den Campus von Mirhampton College, zu Sportclubs oder zum Einkaufen in einen der zwei Supermärkte. Auch gesetzte Bürger des kleinen Ortes sitzen zufrieden thronend auf älteren Modellen, bewegen sich gemächlich vorwärts und winken freundlich, wenn sie bekannte Gesichter auf Plätzen, in entgegenkommenden Autos oder in einem der Geschäfte entlang der Main Street erblicken. Natürlich gibt es in Mirhampton auch sportlich Ambitionierte. Sie tragen aerodynamische Bikerkleidung, professionelle Helme, mit denen sie ein wenig wie Außerirdische mit seltsamen Rübenköpfen aussehen, dazu dunkle Brillen. Sie beugen sich auf ihren Rennrädern weit nach vorn über die flachgestellten Lenker, machen ernste Mienen und sind konzentriert. Sie grüßen selten, stattdessen geben sie weniger seriösen Verkehrsteilnehmern entschiedene, manchmal verärgerte Zeichen: Kinder, die ohne richtig zu schauen über die Straße laufen, werden angeklingelt und mit einer scheuchenden Geste auf die Seite verwiesen. Sorglose Freizeitfahrer, die sich bei gemütlichen Spazierfahrten zu lange ausgiebig umschauen, werden überholt und mit einer beiläufigen Handbewegung bedacht, die wohl so etwas bedeutet wie ein herablassendes Dankeschön. Manchmal treffen diese Radprofis auf Autofahrer, die als gedankenlose Rechtsabbieger die rechtmäßig vorwärtsschießenden Zweiräder übersehen. Dann kommt es unweigerlich zu einer kleinen Katastrophe. Die Radkämpfer sehen stur geradeaus und vertrauen darauf, dass die Ignoranten am Steuer in letzter Sekunde reagieren. Das ist auch fast immer der Fall: die Autofahrer bremsen und fallen dabei hart in den Gurt (einmal soll sich sogar ein Airbag entfaltet haben), oder sie weichen in erschrockenen Sprüngen aus und sehen dann im Rückspiegel drohende Fäuste, anklagende gestreckte Arme und gelegentlich sogar den legendären Mittelfingergruß.

Im Großen und Ganzen geht es aber auf den Straßen des kleinen Ortes friedlich zu. Mirhampton ist eine hübsche kleine Stadt, geprägt durch die ländliche Umgebung. Es gibt hier eine recht große Community von Amishen, die man immer wieder auf ihren Kutschen durch die Straßen ziehen sieht. Und natürlich gibt es hier auch das ziemlich angesehene Mirhampton College.

Man stelle sich eine angenehme Hügellandschaft vor: Felder und Wiesen, weitläufige Wälder, kleine Bäche, die im Frühjahr zu gurgelnden Strömen anschwellen. Man denke sich dazu genau jene dunkelroten Scheunen, die man in den Bildbänden der Reiseliteratur zum Mittleren Westen abgebildet sieht, verstreut in die Täler geworfen. Silos ragen auf und erzählen von den landwirtschaftlichen Traditionen. Die Häuser sind vorwiegend aus Holz und strahlen Anständigkeit aus, die Kirchtürme laden strahlenweiß zu Geselligkeit und Besinnung ein. Haben Sie das vor Augen? Können Sie die Szene sehen? Dann fügen Sie noch ein paar schöne, efeubedeckte Backsteinbauten hinzu, die nicht ganz im Ortskern, sondern ein wenig weiter im Südosten der Siedlung stehen. Sehen Sie das imposante Gebäude mit den hellen Säulen dort? Das ist das Zentrale Verwaltungsgebäude von Mirhampton College. Dort residiert der Präsident. Dahinter versteckt sich ein wenig verschämt der einzige Betonbau, rot übertüncht, aber dennoch nicht so recht ansehnlich. Immerhin, er ist umgeben von hohen Bäumen. Es handelt sich um die Bibliothek. Sehen Sie, gerade tritt dort ein junger Mann aus der Tür. Er ist ziemlich klein, etwas untersetzt, und er hat sehr dunkles, fast schwarzes Haar. Seine Augen sind blau und blicken verschmitzt in die Welt. Er sieht so aus, als könnte man mit ihm gemütlich Bier trinken und dabei über alles Mögliche zwanglos sprechen. Wollen wir?

Keith unterrichtet Musik am Mirhampton College. Seit drei Jahren arbeitet er hier, und eigentlich gefällt es ihm ganz gut. Das sagt er immer, wenn er von seiner Familie oder seinen Freunden nach der Arbeit gefragt wird: „Eigentlich gefällt es mir ganz gut.“ Diejenigen, die mit nur oberflächlichem Interesse wissen wollten, wie es ihm geht, sind mit diesem Satz zufrieden und kommen schnell wieder auf ihre eigenen Angelegenheiten zurück. Andere, Keith Eltern zum Beispiel, reagieren auf das einschränkende Wort „eigentlich“ und haken nach: „Was meinst du damit? Was ist denn nicht so gut?“ Keith weiß es nicht. Er ist tatsächlich zufrieden. Keith liebt Musik, und er mag es zu unterrichten. Er findet die Studenten neugierig und lernbereit, zumindest die meisten von ihnen. Musik ist kein Pflichtfach. Wer in seinen Kursen sitzt, der möchte dort sein. Außerdem gibt es in Mirhampton College viele Kollegen, die auch gern Musik machen. Mit vier von ihnen hat Keith schon kurz nach seiner Ankunft hier ein Kammermusikensemble gegründet: die „String and Key Players“. Das Quintett probt regelmäßig und tritt überall auf, wo Musik zur Untermalung, als Begleitung, zur festlichen Einleitung oder sogar als abendfüllende Darbietung gewünscht ist. Die Musiker sind inzwischen eng befreundet, und Keith hat das Gefühl, seine Kollegen besser zu kennen als seine eigenen Geschwister. Doris unterrichtet am College Management und Corporate Finance. Im Ensemble spielt sie Bratsche, und zwar auf Meisterniveau. Sie ist hervorragend, verfügt über eine glänzende Technik und eine unerwartete Einfühlungsgabe. Das sieht man ihr nicht an, denn sie sieht aus wie eine Management-Dozentin: Kurze, unkomplizierte Haare (die weder ganz glatt noch wirklich lockig sind), ein unauffälliges, intelligentes Gesicht mit einer Brille für ihre kurzsichtigen Augen, und ein geschäftsmäßig wirkender Kleiderstil. Doris hätte leicht eine Solokarriere als Bratschistin starten können. Als Teenager hat sie diverse Preise in Musikwettbewerben gewonnen, ihr wurde sogar noch als Schülerin ein Stipendium für die Juillard School angeboten. Aber Doris fand damals die Aussicht auf ein Leben als Musikerin nicht attraktiv: Als Solistin würde sie ständig reisen müssen, das war ihr schon immer klar gewesen. Das konnte sie sich als Achtzehnjährige nicht vorstellen, genau so wenig, wie sie es sich heute vorstellen könnte. Doris ist gern zu Hause. Sie hat viele Interessen, und alle spielen sie sich in Zimmern ab: kochen, musizieren, rechnen, Steuererklärungen vervollkommnen, Zeitung lesen, ironische Briefe an politisch Verantwortliche aus den Ressorts Haushalt und Finanzen schreiben. Und natürlich Peter, Doris Mann. Peter spielt die zweite Geige im Quintett. Er unterrichtet nicht am College, sondern ist Förster und Schreiner in einer Person. Peter hat das Haus, in dem er und Doris leben, selbst gebaut. Das heißt allerdings nicht, dass das Haus besonders schön oder gelungen ist. Das Quintett trifft sich dort nur bei warmem Wetter: denn es zieht aus den Fugen unter Türen und Fenstern, die Heizanlage funktioniert nicht besonders gut, und auch der große Holzofen ist nicht vollkommen. Das Feuer, das man in ihm entfacht, wärmt zwar die Küche, in der er steht. Leider entwickelt der Ofen aber aufgrund des zu stark nach hinten geneigten Abzugsschachts zu viel Rauch. Nach einer halben Stunde hat sich der Rauch in alle Zimmer des Hauses verteilt und bringt die Musiker zum Husten. Wenn niemand zu Besuch ist, heizen Doris und Peter nicht. Sie laufen dann, wenn die Heizung mal wieder ausfällt, in dicken Pullovern herum, manchmal tragen sie auch Schal und Mütze. Sie haben in ihrem Haus immer etwas zu tun, oft auch etwas, das mit der Behebung der verschiedenen Mängel zu tun hat. Richtig kalt wird ihnen also selten.

Neben Doris und Peter spielen dann noch zwei Musikerkollegen von Keith mit: Martin und Brian. Martin ist sehr groß, sehr dünn, sehr sanft und sehr still. Er ist der Quintett-Konzertmeister. Seine große Liebe gehört der frühen Klassik, vor allem Joseph Haydn, und der späten Romantik, dies allerdings im wirklichen Leben: Martin hat erst mit 52 Jahren seine Frau kennengelernt, eine um zwei Jahre ältere, lebhafte Englischdozentin mit Namen Rose. Sie kannten sich nur drei Monate, bevor sie schon heirateten. Rose redet ebenso viel wie Martin schweigt. Die beiden passen also gut zusammen, und Keith mag sie sehr.

Der fünfte Streicher im Quintett ist Brian, der Cellist. Brian ist schwierig. Er ist, wie Doris, kurzsichtig, aber im Gegensatz zu ihr weiß er das nicht. Als Zwanzigjähriger hat ihm einmal ein Optiker eine „übermäßig gute Sehkraft“ bescheinigt. Darauf beruft er sich gern und lehnt es ab, jetzt, mit fast sechzig Jahren, noch einmal ein fachliches Urteil einzuholen. Also sieht er häufig nicht ganz genau, welche Note er spielen soll („Ist das ein G, oder doch ein A? Die Linie ist etwas verzogen, nicht wahr?“), oder er erkennt Vorzeichen nicht („Wo bitte steht denn hier ein Fis?“), spielt Viertelnoten, wo es Halbe sein sollten („Ach ja, richtig, da ist etwas falsch gedruckt, ich korrigiere sofort“), und braucht lange, bis er die richtige Taktzahl findet („Takt 164? Bei mir steht da nichts mehr ab Takt 120!“). Brian ist der Älteste in der Gruppe, aber auch derjenige, der körperlich am besten in Form ist. Wie er es gern ausdrückt: „Sport macht man nicht, man lebt ihn!“. Brian macht alles: er wandert, klettert, fährt Ski (Langlauf und Abfahrt). Er besitzt ein Kanu, er spielt Basketball in der Seniorenmannschaft des Colleges, und er ist früher sogar Fallschirm gesprungen (das liegt allerdings schon dreißig Jahre zurück). Ab und zu findet er neben seinen zahlreichen Outdoor-Aktivitäten auch Zeit für das Celloüben, und das ist dann immer erfreulich für die Proben im Quintett.

Keith vervollständigt das Quintett als Pianist. Ironischerweise hat Keith als einziger Musiker in dieser Runde das absolute Gehör. Er, der Tastendrücker, der die genaue Tonhöhe einer einzelnen Note geradezu schmerzhaft erkennt, kann seine eigene Modulation im Gegensatz zu seinen Streichkollegen nicht beeinflussen. Er muss den harten Klang seines tiefen „D“ ertragen, auch wenn es um ganze Nuancen zu hoch neben dem „A“ des Cellos schwingt. Er muss es erdulden, wenn Brian behauptet, er spiele doch ein hohes „C“ irgendwo da ganz weit unten in der Daumenlage, wo kein normaler Cellist mehr mit Sicherheit weiß, welchen Ton er greift – aber Keith hört natürlich, dass es ein „H“ ist. Keith ist der geborene Pianist. Er ist virtuos und experimentierfreudig, schnell von Begriff, wenn es darum geht, einen ungeschickten Lagenwechsel von Brian zu übertönen oder den freundlichen Martin in seiner zaghaften Anführerschaft zu unterstützen. Er ist diszipliniert, aber nicht dominierend, und er lässt sich musikalisch nur dann gehen, wenn Doris die Bratsche in seltenen großen Momenten zu einer Solostimme erhebt.

Das Quintett trägt erheblich zu der Zufriedenheit von Keith bei. Er erzählt, wenn man mit ihm ein Bier trinkt, gern und viel von den gemeinsamen Proben, die immer im Wechsel bei Keith (er wohnt in einem sehr schönen, großen, vormöblierten Haus auf dem College-Campus) und bei Martin (und Rose) stattfinden, im Sommer auch immer mal bei Doris und Peter. Nur Brian kann sich nicht als Gastgeber beteiligen. Er wohnt auf dem ausgebauten Dachboden der Scheune neben dem Haus seines Bruders und dessen Familie. „Mir genügt das, ich bin ein alter Naturbursche und sowieso die meiste Zeit nicht in der Stube“, pflegt Brian zu sagen. Für ein Klavier ist bei ihm kein Platz. Auch heute Abend wird das Quintett wieder einmal auftreten: im Rahmen eines zwanglosen Zusammenkommens von Angehörigen des Colleges am Anfang des Terms. Die Dozentin für Französisch hat hierzu eingeladen, man wird sich gegen 19 Uhr in ihrem Haus versammeln. Diese Zusammenkünfte sind immer entspannt und stellen einen angenehmen Start in das Trimester dar. Das Quintett wird Respighi spielen und damit eine gewissen Schwere in das unbekümmerte Geplauder des akademischen Stammpersonals bringen. Für eine musikalische Hintergrundkulisse eignet sich dieses Werk eigentlich nicht. Außerdem hat das Cello über längere Strecken schon im ersten Satz, dem Allegro, eine tragende Rolle – und Brian ist erst gestern von einem mehrtägigen Kanuausflug zurückgekehrt. Gewünscht hat sich die Aufführung dieses Werks der italienische Gastprofessor aus Verona, und da man ihn möglichst lange in Mirhampton College halten möchte (denn er unterrichtet gut, die Studenten mögen ihn, und Italienisch wird nicht oft als Fach geboten), hat man die Musiker gebeten, sich dieses etwas sperrigen Stücks anzunehmen.

Keith hat gerade eine Stunde in der College-Bibliothek verbracht und gearbeitet. Er schreibt an einem Artikel über die Rezeption von Schostakowitschs Musik in Stalin-Russland. Der Artikel soll in einer der kleineren Fachzeitschriften erscheinen: Music and Society. Keith hat hier schon häufiger etwas publiziert, denn sein Spezialgebiet ist, wissenschaftlich gesehen, der Einfluss von Politik und Gesellschaft auf die Entwicklung neuer kompositorischer Konzepte. Schostakowitsch ist hier natürlich ein besonders interessanter Fall: Schwankend zwischen seiner Rolle als Stalins „Hofkomponist“ einerseits und seinem fast schmerzhaften Bewusstsein für die dunkle Seite der Macht und des Sieges andererseits, schuf er ein musikalisches Werk voller Widersprüche. Fast schizophren wirkt seine berüchtigte 5. Sinfonie, in der Pathos und schrille Verzweiflung nebeneinanderstehen. Revolution wird durchbrochen von schüchternen Anklängen zarter Idylle, bis sich im Finale der große Aufmarsch zu einer erschreckenden Einordnung aller Unordnung in gleichförmige Rhythmen fügt. Keith wird seinen Artikel nennen: „Shostakovitch and dictatorship. Music and its catalystic function in the context of a new political dimension of arts. A discursive approach by KEITH HANDERLY.” Keith kennt jeden Takt der Sinfonie, er hat zahlreiche Bücher über Schostakowitsch und die Sowjetunion von der Entstehung bis in die fünfziger Jahre gelesen. Er liebt Schostakowitschs Musik. Keith gehört zu den Menschen, die beim Hören von Musik Bilder und Farben sehen. Er fühlt und erlebt den Aufbau und den Fall ganzer Reiche, Welten und Universen, wenn er große Musik hört. Er hat alle Voraussetzungen, die musikalische Fachwelt um neue Erkenntnisse über den russischen Komponisten zu bereichern. Seine Notizen und Recherchen sind bereit, sie liegen wartend auf ihren Speicherplatten, Papieren und Tonträgern und harren der Erweckung zum Leben, der Einordnung als Fragment in ein großes Bild, der Erlösung aus ihrer Existenz als Stückwerk. Keith muss nur noch zugreifen, ordnen, zusammenfügen.

Doch irgendwie will ihm das nicht gelingen. Er brütet schon lange über seinen Gedanken, Stichwörtern und vorläufigen Skizzen. Wieder und wieder überfliegt er Referenzen, markiert Verweise, sichtet Quellen und erstellt Kategorisierungen von Theorien. Aber es liegt kein Zauber über seiner Arbeit. Keith fühlt sich wie ein unbeholfener Schüler, der nicht weiß, wie er sein Material zu einem sinnvollen Referat strukturieren soll. Trotz seiner neuen Erkenntnisse fehlt etwas: der Regenbogen, der die wahre Beschaffenheit des Farbspektrums sichtbar macht. Keith hat die Wolken, den Regen, die Sonne und die Luft beisammen, er weiß auch, dass daraus etwas Farbiges entstehen wird. Aber der magische Bogen will ihm nicht aus den Händen erwachsen.

Als Keith die Bibliothek verlässt, denkt er an den Auftritt des Quintetts an diesem Abend. Natürlich denkt er auch an Brian und an die wichtige Stimme des Cellos, die nur mit viel Glück zu hören sein wird: nur dann, wenn Brian einen seiner besonderen Momente haben sollte. Diese Momente hat er selten, aber es kommt vor, und dann ist er plötzlich ein anderer Mensch. Wenn es Brian gelingt, sich selbst zu vergessen und nur die Musik fließen zu lassen, dann sieht Keith den Kollegen manchmal so, wie er vielleicht früher einmal war: als einen jungen Mann, der noch an sich selbst glaubt, der neugierig und unerfahren ist, und der die Welt durch die Musik, die er spielt, verstehen möchte. Keith sitzt dann am Klavier und merkt, dass alles stimmt. Die kleinen Perlen des Zusammenspiels, die bisher ordnungsgemäß aufgespult wurden, so dass eine Kette daraus wird, machen sich dann selbständig, springen und tanzen, fallen, zergehen und entstehen neu, bis eine höhere Ordnung in einer anderen Sphäre hörbar wird und jeder Ton, jeder Strich, jede auch nur leise Fingerbewegung der fünf Spieler absolut wahr ist. Dann spielt das Quintett, als offenbare es das höchste Gesetz. Keith versteht dann, und nur dann, was Mathematik sein muss – ein Fach, das ihm sonst nur wenig bedeutet: die Kunst, die Wahrheit zu beweisen, und das mit einer Eleganz, die vollkommen ist.

Keith lächelt vor sich hin, als er die Möglichkeit, dass eine solcher Zauber an diesem Abend geschehen wird, abwägt gegen die Wahrscheinlichkeit eines normalen Auftritts. Im besten Fall wird Brian geübt haben und konzentriert spielen. Doris wird glänzen, Martin zögerlich den Ton angeben, und Peter wird ordentlich sein Zeug abliefern. Das ist der Moment, in dem wir Keith beobachten, nicht wahr? Wir sehen ihn, wie er den Weg entlangschlendert, der von der Bibliothek zum Parkplatz führt – wo sein Fahrrad steht -, und wir sehen ihn leicht lächeln, mit einem vergnügten Blick. Ist das nicht seltsam? Wir glauben, dass er ein gemütlicher Zeitgenosse sein muss, deuten sein Lächeln als Hinweis auf Humor und Optimismus. Aber Keith kommt gerade aus einer Welt, in der er vergeblich versucht hat, einen Regenbogen zu schaffen. Er lächelt über die Vergeblichkeit des Versuchs, einen Zauber durch schiere Willenskraft wirksam werden zu lassen, und er hat das Bild eines Mannes vor Augen, der trotzig am Cello sitzt.

Keith hat vor ein paar Wochen Wolfsspuren im Wald gefunden. Es war beim Joggen, Keith joggt regelmäßig, meist morgens vor der Arbeit. Dabei läuft er immer über weichen Boden und durch wildes Terrain: quer über Wiesen, am Bach entlang, durch das Unterholz des Black Wood, des Mischwaldes, der unmittelbar hinter der Sporthalle des Colleges beginnt. Das Laufen versetzt ihn in gute Laune, weckt seine Lebensgeister, stärkt ihn vor einem langen Tag mit Studierenden und mit Kollegen. Keith kann dann seinen Gedanken nachhängen, ohne zu grübeln: seine Aufmerksamkeit ist von der Aufgabe geschärft, sich einen Weg zu bahnen und nicht zu stolpern. Das macht ihn frei für Bilder und für Themen, die er sich normalerweise nicht gestattet. Dazu gehören unorthodoxe Ideen für seine wissenschaftliche Arbeit: wilde Assoziationen, die nur wenig mit systematischer Recherche und detailgenauer Analyse zu tun haben. Auch an seinen Onkel, der wieder einmal auf Entziehungskur ist, denkt Keith dann manchmal. Und Bilder steigen auf: Brians muskulöse Arme in einem Sporthemd. Ein Arm führt den Cellobogen, der andere Arm greift nach unten, zu einem Ort, den Keith nicht erkennen kann. Oder er sieht seine Schwester Kathie, die sich bei ihrem Mann Tom einhakt. Die beiden gehen eine Straße entlang, und Tom dreht plötzlich den Kopf und blickt Keith aus seinen eisblauen Augen an.

Die Pfotenabdrücke waren eindeutig von einem Wolf. Keith hat in einer Zeitschrift gelesen, dass man Wolfsspuren daran erkennt, dass der Abdruck so aussieht, als sei hier ein Tier mit zwei Krallen an der Pfote gelaufen. Das liegt daran, dass der Wolf die Hinterpfote genau dorthin setzt, wo zuvor die Vorderpfote war. Deshalb sind die Krallen beider Pfoten zu sehen, aber nur ein Abdruck. Genau so sah die Spur aus, die Keith entdeckt hat. Einfach perfekt, wie von einem Künstler mit hohem Aufwand reproduziert. Keith ist stehen geblieben, ganz außer Atem und verschwitzt vom Laufen, und hat sich die Spur genau angesehen. Er hat bemerkt, wie still es im Wald war, nur ein Specht war zu hören. Auf einmal war die Angst da. Keith hat sich umgeschaut, hastig. Er konnte spüren, wie sein Körper schlagartig Adrenalin ausschüttete. Was würde er tun, wenn der Wolf als graue Gestalt zwischen den Bäumen dort stand, unbeweglich, ihn aus gelben Augen starr fixierend? Was, wenn zwei oder mehr Tiere ihn von verschiedenen Seiten angreifen würden? Keith ist kein Mensch, der zur Panik neigt. Doch an jenem Morgen, in diesem Moment, als er dort stand, noch immer außer Atem, von Lauf- und Angstschweiß bedeckt, und mit dem uralten Erbe seiner Vorfahren die Umgebung auf das verdächtigte Muster absuchte, da brachte er dem Gott Pan ein flehendes Stoßgebet vor: „Bitte hilf mir. Ich will nicht sterben. Lass da nichts sein. Lass mich schnell genug wegrennen. Lass den Wolf tot umfallen, bevor er bei mir ist.“

Später hat Keith über seine Reaktion lachen können. Wie ein kleines Kind, das sich vor einem Hund fürchtet und den Vater oder die Mutter vorschickt, so hat er sich benommen. Aber Keith ist nachsichtig, mit anderen Menschen und auch mit sich selbst. Außerdem hat ihn irgendetwas an dieser Beinahe-Begegnung mit einem Wolf fasziniert. Er denkt immer wieder daran, wie er sich gefühlt hat: erfüllt von Todesangst und übergroßem Lebenswillen. Sein Verstand diente ausschließlich dazu, diesen Moment zu begreifen, die Fakten zu sortieren, Handlungsmöglichkeiten für die nächsten Sekunden in einer rasenden Geschwindigkeit gegeneinander abzuwägen. Keith spürt immer noch eine Erregung, einen Nachklang der wenigen Sekunden, in denen sein Körper und seine Intelligenz unbedingte Verbündete waren.

Keith möchte heute Abend, nach dem Auftritt, Brian von diesem Erlebnis erzählen. Vielleicht bei einem Glas Wein, oder besser noch: nach ein paar Gläsern Wein. Bisher hat er mit niemandem darüber gesprochen. Er wollte einfach nicht hören, dass es wohl doch kein Wolf war, oder dass es durchaus ein Wolf sein könnte, höchstwahrscheinlich sogar, und man müsse ihm schnellstens den Garaus machen, bevor er Vieh, Hunde oder sogar Menschen anfalle. Keith wünscht keine Diskussion über die Gefährlichkeit oder die Schutzbedürftigkeit von Wölfen. Er möchte einfach berichten, was er gesehen und wie er sich dabei gefühlt hat. Und Brian, dieser hartgesottene Natursportler, ist dafür genau der Richtige.

Wir bemerken etwas. Keith, der junge Mann, der uns so vertraut scheint, der mehr oder weniger glücklich sein Kleinstadt-College-Leben führt, entgleitet uns. Gewiss, schon zuvor ist uns aufgegangen, dass er nicht der unbeschwerte Mensch ist, den wir in ihm sahen, als er die Bibliothek verließ. Aber er war dennoch ein Vertrauter, einer, der die Welt mit unseren Augen sieht. Und jetzt? Wir verstehen ihn nicht mehr ganz. Er benimmt sich normal, aber in ihm sind Abgründe verborgen, von denen wir nichts wissen können. Wollen wir diese versteckten Welten erkunden? Wir wissen es nicht, aber wir sprechen uns Mut zu.

Auch Keith spricht sich Mut zu. Er hat ein Gespräch vor sich mit einer Studentin, die seinen Kurs „Music of the New World: American composers since the late 19th century“ nur mit einem „C“ abgeschlossen hat. Becky strebt ein Studium an einer Elite-Universität an, dazu benötigt sie Bestnoten in allen Fächern. Das C war gerechtfertigt, denn Becky hat nur gerade das Pflichtprogramm absolviert. Das bedeutet, dass sie für die Tests lediglich Namen und biographische Daten von Komponisten auswendig gelernt und mit Mühe und einigen Fehlern reproduziert hat. Sie hat die wichtigsten Werke von Bernstein und von Gershwin gehört und dazu etwas (wenn auch nichts Interessantes) geschrieben, aber schon zu Nicolas Flagello fiel ihr nur in einem Nebensatz ein, dass „… dieser Komponist auch Bedeutsames für Harfe komponiert hat“. Schon für dieses Wort, „Bedeutsames“, hätte Becky ein D verdient. Wie oft hat er, Keith, seine Studenten ermuntert, Musik genau und präzise zu beschreiben und dabei vage Ausdrücke, Füllwörter und Euphemismen zu vermeiden! Keith wird Becky fragen, was genau sie an Flagellos Musik bedeutsam findet. Natürlich wird sie darauf nicht antworten können. Keith schüttelt verärgert den Kopf. Dann grinst er plötzlich, als ihm einfällt, was einer der Studenten über Flagellos Sonate für Harfe gesagt hat: das Geplätschere klinge so wie eine nicht zum Ende kommende Ejakulation. Im Kurs hat Keith sich diese unangemessene Wortwahl verbeten, aber insgeheim musste er an sich halten, um nicht laut herauszuplatzen.

Fünf Minuten später sitzt ihm Becky in seinem Wohnzimmer gegenüber. Sie hat ausdrücklich darum gebeten, ihn zu Hause besuchen zu dürfen. „Ich möchte mich ein einziges Mal in einer angenehmen Atmosphäre mit Ihnen unterhalten“, hat sie erklärt. „Nicht im College, in Ihrem Büro. Ich möchte über Musik sprechen, das geht nur richtig, wenn wir entspannt sind.“ Und dann, als sie seinen Gesichtsausdruck sah, fügte sie hinzu: „Oder dürfen wir beide nicht allein in Ihrem Haus sein?“ Dabei hat sie ihre braunen Augen weit aufgerissen und ihm einen Blick zugeworfen, der wohl verführerisch wirken sollte, der Keith aber vor allem an die Bestellung seiner neuen Kontaktlinsen erinnert hat. Fast geistesabwesend hat er dem Besuch seiner Studentin zugestimmt.

Becky hat sich so auf das Sofa platziert, dass ihr Gesicht von der Sonne gestreift wird, die in golden werdenden Strahlen durch das Fenster fällt. Becky ist hübsch, auf diese saubere und unkomplizierte amerikanische Art. Sie wird häufig mit der jungen Meg Ryan verglichen, und Keith denkt jetzt, dass dieser Vergleich gerechtfertigt ist. Sie ist ebenso blond, unbekümmert und stupsnäsig, und sie hat genau wie die Schauspielerin das Talent, sich auffallend in Szene zu setzen und zugleich so zu tun, als sei sie vollkommen natürlich und bemerke nicht einmal, dass sie betrachtet wird. Jetzt schaut sie sich auffällig interessiert im Raum um. Ihre Bemerkung zu den vielen Notenstapeln auf dem Klavier und zu diversen Instrumenten, die an der Wand hängen, ist so vorhersehbar, dass Keith die Worte hätte aufschreiben, verdeckt in der Hand halten und ihr dann vorlesen können, so wie in dem Film vom ewigen Murmeltiertag: „Man merkt, dass Sie Musiker sind. Ich finde dieses Zimmer einfach unglaublich!“ Keith stellt sich vor, Becky zu antworten: „Sie finden dieses Zimmer unglaublich? Sie glauben nicht, dass es existiert? Wirklich nicht?“ Natürlich macht er das nicht, aber er muss lachen. Ganz kurz und bellend klingt es, er kann den Impuls nicht unterdrücken. Becky schaut ihn erstaunt an, diesmal ist ihre Reaktion tatsächlich natürlich. Keith räuspert sich. „Becky, was genau möchten Sie mit mir besprechen? Hat es etwas mit der Benotung Ihrer Leistungen zu tun?“ Becky richtet sich auf. Sie sieht Keith gerade an, ihre Hände liegen im Schoß. Sie ist sehr blond, und Keith ist sehr gleichgültig. „Ja, Mr. Kramer. Ich glaube, Sie haben mein großes Interesse an der Musik US-amerikanischer Komponisten unterschätzt. Und meiner Meinung nach ist es doch ein wichtiges Ziel Ihrer Lehrtätigkeit, das Interesse zu wecken, nicht wahr?“ Keith möchte einflechten, dass Interesse nur ein angenehmer Nebeneffekt ist, der allerdings meistens auch zu guten Noten führt. Aber Becky fährt schon fort: „Ich wusste vor diesem Kurs so gut wie nichts über unsere großen Komponisten, mit Ausnahme von Bernstein natürlich. Sie haben mich dazu gebracht, ganz neue Stimmen zu entdecken und viel differenzierter auf unsere eigene Musik hier zu hören. Dafür möchte ich Ihnen danken. Es war ein Erlebnis ganz besonderer Art.“ Sie ist jetzt sehr ernst und wickelt, scheinbar ganz in ihre Gefühle vertieft, eine dicke Strähne ihres blonden, glatten Haars um die Finger. Keith denkt an Ben und seinen Satz von der Ejakulation, die so lange auf sich warten lässt. In seinem Kopf entsteht das Bild von Becky, die mit ausgebreiteten Haaren auf einem Bett liegt und von einem Mann, der daneben auf einem Stuhl sitzt und Harfe spielt. Die Becky auf dem Bett ruft ekstatisch: „Ein ganz besonderes Erlebnis!“ Es ist schrecklich, Keith muss schon wieder lachen. Diesmal ist es kein kurzes Bellen mehr, sondern ein echtes, herzliches Lachen aus tiefster Kehle. Becky wird ganz rot im Gesicht. Sie springt vom Sofa auf. „Ich weiß nicht, was daran lächerlich ist, Mr. Kramer.“ Keith springt auch auf. „Es tut mir leid, Becky, ich habe gerade an etwas ganz anderes gedacht. Aber um auf Ihre Fragen von vorhin zurück zu kommen, Becky: Interesse ist schön und gut, aber bewertet wird Wissen. Und da habe ich Sie ganz objektiv mit einem C bewertet. Es tut mir leid.“ Er sagt das zum zweiten Mal, und es bleibt offen, ob er das C meint, seine Belustigung, die sie nicht versteht, oder auch die Tatsache, dass sie jetzt vielleicht nicht auf eine Elite-Universität wird gehen können.

Keith sieht Becky nach, die in ihren sehr engen Hosen und mit ihren sehr blonden Haaren sein Haus verlässt. Und plötzlich denkt er wieder an den Wolf, den er fast gesehen hat. Er steht möglicherweise irgendwo und lauert, wartet ab, wittert in die Luft, nimmt die Fährte von Becky auf, oder versucht die Gewohnheiten von Keith zu begreifen – so, wie Wölfe eben menschliches Handeln und Planen begreifen und für ihre eigenen Vorhaben nutzen. Keith überlegt, ob Wölfe Pläne schmieden, die über das Jagen im Rudel und über die Aufzucht von Jungen hinausgehen. Kennen Wölfe so etwas wie Sehnsucht? Genießen sie manchmal das Laufen über weite, verschneite Felder, fühlen sich wie im Rausch in der eiskalten Luft? Haben sie Angst vor Sackgassen im Leben? Keith lächelt über seine eigenen Fragen. Was ist das nur mit diesem Wolf, dessen Spur er im Wald gesehen hat? Warum berührt er ihn so? Was ist es, das ihn mit Schrecken und Faszination erfüllt? Es muss das uralte Märchen sein, das Märchen von dem Wolf, der die Menschen vom Weg lockt, betört und dann auffrisst. Keith denkt an Schostakowitsch und seine Musik, die ein Opfer an Stalin war und zugleich eine Waffe gegen seine Macht, ein kunstvoll gearbeitetes Schwert aus Gold, mit Edelsteinen besetzt, voller Verzierungen, das dem Diktator, richtig geführt, mit einem einzigen Hieb den Kopf abzutrennen imstande war. Hat Schostakowitsch in Stalin etwas Wolfsähnliches gesehen? Ohne nachzudenken weiß Keith, dass ein Mensch, und besonders ein Herrscher, ein politischer oder militärischer Anführer, niemals einem Wolf gleichen kann. Stalin war höchstens das Gespenst eines Wolfs, ein blasser, böser Dämon, ein kraftloses Abbild des wilden Tiers. Stalin und andere Diktatoren sind armselige Kreaturen, die Tricks anwenden müssen, um sich bemerkbar zu machen, die Minderwertigkeitsgefühle kompensieren und eine langweilige, mühsame, auf Strategien, Taktiken und Befehl- und Gehorsam-Systemen beruhende Machterhaltung betreiben. Ihnen fehlt alles: die wortlose, absolute Selbstverständlichkeit der Existenz eines Wolfs, die schiere Körperlichkeit und Überzeugungskraft ohne Argumente und ohne faulen Zauber.

Keith ist fertig mit Nachdenken. Er hat jetzt das Bedürfnis, Klavier zu spielen. Und das macht er dann auch, bis es Zeit ist, zu dem abendlichen Event aufzubrechen: Eröffnung des Trimesters, Schlagabtausch mit Kollegen, Umschmeicheln des Italienisch-Dozenten, Alkohol und gute Stimmung. Respighi mit den String and Key Players inklusive.

Wir, die wir einen bequemen Beobachterplatz einnehmen, sehen die Gäste an diesem Abend im Januar in dem großen Wohnzimmer der Gastgeber stehen oder sitzen. Es ist eine gemäßigt bunte Gesellschaft, nicht wahr? Die Assistentin für Geschichte fällt etwas auf, mit ihrem orange-roten, fransigen Poncho zu glitzernden Leggins und schweren schwarzen Stiefeln. Mit ihren rotgefärbten langen Haaren wirkt sie wie eine modische Pippi Langstrumpf, und sie scheint auch ebenso entspannt, neugierig und unbefangen zu sein. Ihr Name ist Sarah, und Keith unterhält sich immer sehr gern mit ihr, das tut er auch jetzt gerade. Sie sind etwas gleich alt, gleich groß und haben offenbar einen ähnlichen Humor, denn sie lachen viel. Der Rest der Gästeschar ist gediegen-unauffällig: Wollkleider oder Jeans mit schicken Blusen oder Pullis für die Frauen, legere Anzug-Hemd Kombinationen (natürlich ohne Krawatte) für die Männer. Der Physik-Dozent bemüht sich wie immer um die neuen weiblichen Lehrkräfte, vor allem um diejenigen, die unter 30 sind. Er bringt ihnen Süßes und Alkoholisches vom Buffet, erzählt nette Geschichten vom College und fragt sie nach ihren Vorlieben aus. Wer fällt uns noch ins Auge? Vielleicht die Gastgeberin selbst, eine etwa 50-jährige Frau, die nicht gerade gut aussieht: sie ist zu dünn und knochig, als dass man ihre Figur bewundern könnte, ihr Haar ist verwaschen und zu lang, so dass es etwas ungepflegt aussieht. Trotzdem ist sie unglaublich sympathisch. Sie strahlt eine selbstverständliche Ruhe aus, und als Gastgeberin ist sie unschlagbar: ohne aufdringlich zu sein, sorgt sie für die Bequemlichkeit der Gäste, füllt hier eine Karaffe mit Wein auf, räumt dort ein paar schmutzige Teller weg. Sie geht von Gruppe zu Gruppe, hat überall etwas zu sagen und bringt fast jeden, mit dem sie ein paar Worte wechselt, zum Lächeln. Sogar mit Brian gelingt ihr das, und das will etwas heißen, denn Brian ist heute schlecht gelaunt.

Keith hat die Verstimmtheit seines Quintett-Kollegen gleich bemerkt, als dieser hereinkam. Brian hat einen energischen Gang, man sieht seiner Art zu gehen an, dass er viel Zeit in der Natur und mit anstrengenden Outdoor-Aktivitäten verbringt. Heute Abend strahlt er etwas Verhaltenes, Zögerliches und zugleich Gereiztes aus. Er tritt vorsichtig auf, so als würden seine Knie schmerzen. Das Cello stellt er mit einer ungeduldigen Bewegung in der Ecke ab. Normalerweise ist Brian schnell der Mittelpunkt einer lauten Gruppe, der er seine Geschichten von riskanten Unternehmungen erzählt. Aber jetzt wendet er sich sofort dem Buffet zu, oder besser gesagt: der Bowle, die dort in einem großen Topf bereitsteht. Er greift hastig nach einem Glas, schenkt sich ein, trinkt aus, schenkt nach. Dann bleibt er, wie Keith aus dem Augenwinkel bemerkt, dort am Tisch stehen und beachtet niemanden. Keith überlegt, ob er den Kollegen ansprechen soll, aber da ist die Gastgeberin schon bei ihm, sagt etwas zu ihm. Die beiden unterhalten sich – worüber nur? Und Brian lächelt. Keith fragt sich, wie es möglich ist, dass jemand in so kurzer Zeit diese Wirkung bei dem Cellisten erzielen kann. Brians Schultern entspannen sich, er hebt den Kopf und schaut zum ersten Mal die anderen Menschen an. Keith erschrickt, als seine Gesprächspartnerin ihn anstößt und fragt, was er zu einer Geschichte meint, die ihm vollkommen entgangen sein muss. Er hat nicht zugehört, er weiß nicht, wovon sie spricht. Keith wird plötzlich ärgerlich. „Was weiß ich, ich muss mich auf das Spielen vorbereiten“, stößt er unwirsch hervor und fügt, da er sich seiner Grobheit bewusst ist, hinzu: „Entschuldige bitte.“ Aus einem Grund, den er nicht kennt, denkt er auf einmal wieder an den Wolf. Ganz kurz hat er das fast überwältigende Bedürfnis, das Zimmer, die Kollegen, das Haus zu verlassen und in den Wald zu gehen, genau zu der Stelle, an der er die Wolfsspuren entdeckt hat. Er will das Tier unbedingt einmal sehen, sehnt eine wenigstens flüchtige Begegnung herbei. Die Erinnerung an die heilige Angst bei der Vorstellung, die Tiere seien ganz in seiner Nähe, ist noch immer stark.

Aber natürlich verlässt Keith die gesellige Szene nicht. Der Abend verläuft so, wie wir es erwarten dürfen: Keith trinkt ein Glas Wein, entspannt sich, trifft Doris und geht mit ihr zum Klavier, um ein paar etwas heikle Stellen im dritten Satz von Respighis Quintett zu besprechen. Später spielen die String and Key Players, und es wird gut: denn Martin ist heute ein entschiedener erster Violinist, Brian spielt wirklich hervorragend und macht den ersten Satz zu einer Hymne, und alle fünf Musiker sind feinfühlig, aufeinander konzentriert und mit Leidenschaft bei dem Stück. So wird Respighi zu einer echten Überraschung: Keith hört nach dem Auftritt viele Bemerkungen wie „ein unterschätzter Komponist“, „ein echtes Geheimnis“ und „durchaus vergleichbar mit Schubert“ (diese Aussage lässt Keith allerdings zusammenzucken, aber so, dass der alte Professor für Chemie es nicht bemerkt). Allerdings hat Keith danach keine Gelegenheit mehr, mit Brian über den Wolf zu sprechen. Keith wird von dem Italienisch-Dozenten, der erfolgreich mit Respighi bezirzt wurde, in ein langes Gespräch über das musikalische Italien zur Zeit Mozarts gezogen. Und Brian unterhält sich den ganzen Abend mit der lebhaften Gastgeberin, deren etwas abgekämpfter Charme am besten zur Geltung kommt, wenn sie spricht. Die beiden scheinen sich ihr gesamtes Leben zu erzählen, sie reden und reden, sogar dann noch, als Keith geht (und er gehört zu den letzten Gästen, die sich verabschieden).

Übrigens wird Keith tatsächlich noch häufig in den Wald gehen und die Stelle suchen, an der er die Wolfsspuren entdeckt hat. Er wird weitere Anzeichen dafür finden, dass es hier Wölfe gibt. Unter anderem wird er glauben, dass er ein Büschel Wolfshaare in einem Busch entdeckt hat, er wird Kratzspuren an Baumrinden sehen, die er dem Wolf zuschreibt (obwohl er nicht weiß, ob Wölfe wirklich ihre Krallen an Bäumen wetzen). Vielleicht wird er dem Wolf auch begegnen, wer weiß? Eine Vorstellung, die ihn nachts in Träumen beschäftigt, spielt sich spät am Abend unmittelbar vor seinem eigenen Haus ab: Er kehrt von der Suche nach dem wilden Tier zurück und will eben seine Haustür öffnen, als er eine Gegenwart, eine Anwesenheit, im Rücken spürt. Er wendet sich langsam um, so, als wüsste er bereits, was ihn da erwartet. Zunächst ist nichts zu sehen, es ist ja auch schon fast dunkel. Vor dem Schuppen lehnt sein Fahrrad, daneben glänzt im Schein der Hauslampe eine alte Schubkarre auf, mit der Keith immer das Laub zu dem Komposthaufen im hinteren Garten transportiert. Es ist sehr still, nur in der Ferne ist ganz leise der Motor eines Autos zu hören. Keith weiß nicht, was er machen soll. Er steht unschlüssig da, wartet, lauscht, er fühlt sich wie ein Blinder, der ganz auf seinen Hörsinn angewiesen ist. Und dann löst sich ein Schatten aus dem Geräteschuppen, wird zu einer grauen Gestalt, und bevor Keith versteht, ist der Wolf schon bei ihm. Und alles ist so, wie es sein muss: der starke Geruch, die unglaubliche Geschwindigkeit, mit der das Tier die Entfernung vom Schuppen zur Tür, vor der Keith steht, bewältigt hat. Ein Sprung, und dann die Zähne, die sich wild und trotzdem seltsam zart in seinen Hals bohren. Keith begreift das auf einer Ebene, die nichts mit Reflektion und mit abstrakten Worten zu tun hat. Trotzdem ist ihm klar, dass er jetzt zu Boden fallen muss, dass die gelben Augen des Wolfs ihn fixieren, und dass ihm sein eigenes Blut über das Gesicht läuft.

Vielleicht geschieht das ja wirklich einmal, genauso, wer weiß das schon? Mittlerweile hat Keith Zeit, seine Arbeit über Schostakowitsch zu beenden. Er wird das schon schaffen, es gibt ja auch gute Artikel, die nicht von dem Bild eines Regenbogens inspiriert wurden. Es muss ja nicht alles mit der übermächtigen Leidenschaft geschrieben werden, die wir uns Menschen selbst zuschreiben, nicht wahr?

So, da sehen wir Keith gerade auf dem Weg zur Bäckerei. Es ist morgens, er ist wohl heute nicht gejoggt. Ungewöhnlich, aber warum sollten Menschen ihren Rhythmus nicht auch einmal ändern? Keith hat sein Fahrrad zu Hause gelassen. Er geht zu Fuß, weicht beim Überqueren der Straße geschickt ein paar streng aussehenden Radlern aus. Will er in der Bäckerei etwas kaufen, ein paar Donuts vielleicht, für die Pause später nach seinem Kurs? Die College-eigenen Donuts sind ja auch wirklich ungenießbar. Aber nein, er bestellt einen Kaffee und setzt sich an die Theke. Das ist ja tatsächlich etwas ganz Neues! Er sitzt da, trinkt kleine Schlucke aus seinem Becher, und blickt zum Fenster hinaus. Wartet er auf jemanden? Es sieht jedenfalls so aus. Möglicherweise kommt gleich ein Freund, ein Bekannter, ein entfernter Cousin? Vielleicht wird es ein junger Mann sein, jemand, den man hier im Ort nicht kennt. Er wird, wenn er kommt, sicherlich sofort etwas bestellen: einen Kakao mit Marshmallows. In Mirhampton muss man immer sofort etwas bestellen. Schließlich müssen die Geschäfte in einer so kleinen Stadt sehen, wie sie ihre Kosten decken. Es ist gar nicht so einfach, hier eine Bäckerei zu betreiben: die Studierenden frühstücken in der College-Cafeteria, sie holen sich zwar nachmittags häufig einen Coffee-to-go, aber das allein reicht nicht aus, um Gewinn zu machen. Deshalb können wir fast sicher sein, dass der Mann, auf den Keith zu warten scheint, nicht dort sitzen bleiben wird, ohne etwas zu konsumieren. Mirhampton hat ja auch einen Ruf zu wahren: den des Ortes, in dem der Kampf gegen eine ausbeuterische Autoindustrie aufgenommen wurde. Das wird Keith seinem Besucher erklären, wenn der es nicht schon selbst weiß. Keith hat übrigens beschlossen, die ganze Geschichte mit dem Wolf aufzuschreiben. Vielleicht wird er später sogar Musik komponieren, inspiriert von einer Begegnung im Wald, die fast stattgefunden hätte.

Da sitzt also Keith und nippt immer noch an seinem Kaffee. Wir sind überzeugt, dass er nicht mehr lange allein bleiben und zum Fenster hinausschauen wird. Aber ganz sicher sind wir auch nicht. Wir Menschen, alle von uns, ahnen und glauben, sammeln Fakten und schlussfolgern. Und doch, ganz tief in unserem Inneren, ist uns klar: Eigentlich wissen wir gar nichts.

E N D E


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